Bei strahlendem Wetter fahren wir den Kilometer langen Lastwagenkolonnen entlang zur Grenze. Die vierspurige Strasse führt eingeklemmt zwischen dem Meer und steil aufragenden Felsen als einziger passierbarer Durchgang in das kleine Nachbarsland. Während die Lastwagen schon seit Tagen festsitzen, schlängeln wir uns mit unseren Fahrrädern problemlos an den Kopf der Reihe. Wie ein Korke verschliesst der elegante Grenzübergang die enge Passage. Die Lastwagen mit exotischen Nummernschildern stehen verkeilt und chaotisch auf dem verhältnismässig kleinen Vorplatz und einmal mehr feiern wir das Unterwegssein mit den Fahrrädern. Auf der georgischen Seite werden wir durch den Passagierdurchgang gewiesen und schneller als gedacht stehen wir auf georgischem Boden. Ein bisschen wehmütig verlassen wir die Türkei. Aber auch sehr neugierig auf das, was uns in diesem neuen Land erwartet. Nach der ersten Kurve im neuen Land winkt uns ein bärtiger Mann von seinem klapprigen Stand aus zu: «Wine wine!», ruft er. «Georgian wine!»
Schon die ersten Kilometer machen klar: Dieses Land ist ganz anders. Der schmale Grenzübergang bildet eine so klare Grenze, wie wir sie bisher noch nicht erlebt haben. Die wunderschöne, für uns unleserliche georgische Schrift gibt uns Rätsel auf, am Strassenrand sind die Moscheen schlagartig den typisch georgischen Kirchen gewichen, es liegt deutlich weniger Abfall herum, und die Landschaft öffnet sich. Und dann die Bäume. Noch nie haben wir eine Landgrenze erlebt, die gleichzeitig auch eine Vegetationsgrenze ist. Nichts mit fliessendem Übergang. Ab der Grenze fahren wir plötzlich durch Alleen von Eukalyptusbäumen, wir erspähen «Cabbage-trees», die wir nur von Neuseeland kennen, struppige Wiesen zieren den Wegrand und immergrüne Sträucher und Bäume lassen die Landschaft irgendwie frühlingshafter wirken.
Kleine, freundliche Kühe spazieren mit ihren Kälbchen im Schlepptau wild durch die Gegend und auch halbwilde Ponys erspähen wir. Spätestens als auch noch ein Schwein vor uns die Strasse überquert, realisieren wir, dass wir hier an einem Ort mit etwas anderen religionsbedingten Regeln angekommen sind.
Bald schon beginnt sich die eindrückliche Skyline von Batumi abzuzeichnen. Gläserne Hochhäuser drängen sich im Zentrum nebeneinander und wirken wie von einem anderen Stern. Nach einer Brücke über ein wunderbar breites Flussdelta beginnt sich die Stadt um uns aufzutürmen. Sowjetische Wohnblocks, riesige Verkehrskreisel, und chaotische, mehrspurige Fahrbahnen. Wir fahren hungrig in Batumi ein und hoffen auf neuen, interessanten Streetfood. Wir fahren durch ein unglaublich modernes, aber auch etwas ausgestorbenes Zentrum und schliesslich in den älteren Teil der Stadt. Doch wo sind denn hier die Imbissstuben? Wir irren herum doch ausser Bars entdecken wir wenig, was unseren Appetit stillen könnte. Ein langhaariger Typ mit Bierglas in der Hand gibt uns in gutem Englisch einen Tipp, doch auch das hilft nicht weiter. Bier und Bars gibt’s hier überall, Snacks weniger. Schliesslich finden wir in einer Seitenstrasse ein Schaufenster mit verschiedenen gefüllten Brötchen. Sie sehen wenig einladend aus, doch wir schlagen zu. Vier labbrige, geschmacklose Teigfladen später, ist unser Hunger zwar gestillt, nicht aber unsere hohen Erwartungen an das georgische Essen. Die kommenden Tage bestätigen leider diesen ersten Eindruck: Streetfood in Georgien bedeutet Schoti (frisches, rautenförmiges Tandoor-Brot), Chatschapuri (Weissbrot-Fladen) mit Käse, Chatschapuri mit Bohnenpaste (Lobiani), und Chatschapuri mit Kartoffeln. Das Würzen übernimmt man am besten selbst. Zum Dessert gönnen wir uns entweder ein süsses Brötchen oder ein schweres Gebäck bestehend aus Butter, Zucker und etwas Mehl- roher Mailänderliteig also.
Wir verlassen Batumi und finden sehr zufällig ein wunderbar verwunschenes Plätzchen für die Nacht: Oberhalb des Botanischen Gartens stossen wir auf eine (Kirchen-?) Ruine mitten im Grünen mit Aussicht auf die ferne Skyline und das Schwarze Meer. Ein alter Mann, der hier ein kleiner, wilder Garten unterhält und seine Kuh weiden lässt, erzählt uns ganz viel über sich und die Welt. Leider spricht er ausschliesslich Georgisch- und wir definitiv nicht. Das Gespräch ist trotzdem sehr freundlich und lustig, denn wir alle versuchen uns in ausdrucksstarker Pantomime. Wir sind bereits am Abendessen kochen, als Baka erneut vorbeischaut und uns mit einem riesigen Sack Mandarinen und Orangen frisch ab Baum überrascht.
Georgiens Landschaft ist anders. Hier gibt es wieder Hecken und Gebüsche, kleine Wäldchen und offenes, struppiges Weideland. Während in grossen Teilen der Türkei nahezu jeder Quadratmeter landwirtschaftlich genutzt wird, gibt es hier wieder Platz für echte Natur. Die einfachen Holzhäuser sind alle von grossen, halbwilden Gärten umgeben und mit fotogenen Holz- oder Metallzäunen eingefasst. Haselnusssträucher, Kakibäume und natürlich die obligaten Weinreben finden sich um jedes Haus. «Gamarjoba», rufen wir den Menschen zu und heben die Hand zum Gruss. Meist kommt ein Nicken oder die Antwort «Gagimarjos» zusammen mit einem verwunderten Blick zurück. Velofahren hier? Mit so viel Gepäck? Im Winter? Wir verlassen die Küste und fahren Richtung Nordosten ins Landesinnere. Mittlerweile liegt Schnee am Wegrand und trockene Plätzchen werden rar. Gerade wollen wir uns aus mangelnden Alternativen für die Übernachtung auf einen Schulhof schleichen, als ein Auto neben uns anhält und Christoph uns seine Hilfe anbietet. «Könnt gerne in unserem Garten übernachten», meint er. Dieses Angebot nehmen wir gerne an und so verbringen wir den Abend bei der deutschen Auswandererfamilie. Nach einer 11-monatigen Reise mit dem Wohnmobil haben sich Claudia und Christoph und zwei Söhne vor einem halben Jahr in Georgien niedergelassen. Hier renovieren sie jetzt ihr neues Zuhause und planen einen kleinen Familiencamping auf ihrem wunderschönen Flecken Land. Die beiden geben uns einige wertvolle Tipps zu Land, Leute und Sprache. Unter anderem erzählen sie uns von einer nur 70 Kilometer entfernter Sulfur Quelle- ein perfektes Ziel für den Neujahrsabend. Glücklicherweise liegt die Quelle sogar auf unserer geplanten Strecke.
Am nächsten Tag verabschieden wir uns von der fröhlichen Familie und machen uns auf den kalten Weg.
Wir versuchen wie so oft die vielbefahrenen Hauptstrassen zu vermeiden und so führt uns die Strecke durch winterliche Hügellandschaften, mit einsamen Häusern, durch waldige Gebiete, entlang von Flusslandschaften und durch kleinere Dörfer. Georgien bzw. das Leben hier wirkt wie zurückversetzt in der Zeit. Die Menschen sind mehrheitlich Selbstversorger, im Garten wird Holz gehackt, die Häuser werden zu grossen Teilen selbst gebaut.
Unsere heisse Quelle ist weiter weg als gedacht. Spät am Nachmittag weist uns eine kleine Bildtafel von der Strasse weg in eine Rumpelstrasse. Der Slalom zwischen den tiefen Schlaglöchern hindurch lohnt sich aber bestens: Tatsächlich taucht vor uns mitten auf einer schlammdurchsetzten Wiese ein dampfendes Becken mit eigentümlich blauem Wasser auf. Wir sind da. Zusammen mit einem Weissrussen und zwei Deutschen liegen wir bis spät in der Nacht im heissen Wasser und lassen uns zum Jahresabschluss garen. Unser Zelt stellen wir frech auf die gedeckte Veranda eines kleinen Bauernhauses in der Nähe, da für die Nacht Regen angesagt ist.