Burg, Bier und Berg
Burg, Bier und Berg

Burg, Bier und Berg

Der eisige Wind lässt über Nacht die Wasseroberfläche des Sees teilweise gefrieren und die Wellen treiben die kantigen Eisplatten an das Ufer, wo sie sich melodiös aneinander reiben. Das gegenüberliegende Ufer scheint in weiter Ferne und die schneebedeckten Flächen wirken nur sehr spärlich bewohnt. Kaum zu glauben, dass einige dieser sanften Hügel über 3000 Meter hoch sind! Wir geniessen den friedlichen Morgen bei einer Tasse Kaffee in der Morgensonne und müssen uns für die Fahrt heute erst einmal warm einpacken. Bald folgen wir dem kleinen Fluss Hrazdan Richtung Hauptstadt. Trotz der Nähe zu Jerewan wirkt das Tal unglaublich abgelegen. Auch hier rahmen steile Flanken den Talgrund und wir staunen über die unzähligen einladenden Picknickbänke. Allerdings haben solche Plätzchen immer auch eine Schattenseite: Wie scheinbar überall auf der Welt (mit wenigen Ausnahmen) werden die Rastplätze von einer Unmenge Müll umgeben. Plastiksäcke hängen in den kahlen Bäumen und Büschen fest, und Flaschen, Windeln und Verpackungen liegen wild verstreut. In Armenien wie auch in den meisten anderen bisher durchfahrenen Ländern, steckt der Recyclinggedanke noch tief in den Kinderschuhen. Auch wenn wir unseren Abfall ausnahmslos sammeln und in den bereitstehenden Mülltonnen versenken, wissen wir mit Bestimmtheit, dass auch unser Müll unsortiert in einer offenen Grube irgendwo an der frischen Luft enden wird.

Die Fahrt durch das Hrazden-Tal beeindruckt uns auch mit Abfall ganz anderer Art. Riesige, sowjetisch anmutende Skulpturen ragen an unerwarteten Orten in den Himmel. Leerstehende Gebäude zeugen von nicht fertig geträumten Träumen und dem abrupten Ende der Sowjetunion. Zum Mittagessen setzen wir uns in den einstigen Park eines Nachtclubs und bestaunen das futuristisch-absurede Gebäude auf der gegenüberliegenden Strassenseite: Mit den grossen, runden Türmen schaut es aus wie eine Burg. Auf den ersten Blick sieht es aus, wie ein grosses, leerstehendes Hotel. Auf den zweiten Blick wird ersichtlich, dass das Gebäude wohl gar nie seine eigentliche Funktion aufgenommen hat. Auf den dritten Blick fährt plötzlich ein Auto vor und der Besitzer der Unglücksburg und sein Freund steigen aus. Die Verständigung ist wackelig, aber der stolze Mann zeigt uns Musikvideos mit seinem Gebäude als Kulisse, bietet uns ein gratis Zimmer an und fügt an: «Wenn ihr jemanden kennt, der dieses Haus gerne fertigbauen möchte, gib ihm meine Nummer!» (Falls du diese Person bist: Melde dich hier: 098314949091) Im Anschluss an unsere Mittagspause machen wir uns auf eine kurze Erkundungstour durch die besondere Bauruine und fühlen uns wie zurückgeworfen in eine scheinbar goldene Zeit, als die Kommunistischen Obergenossen hier ihre Ferien verbrachten und keine Idee unmöglich erschien.

In Jerewan zielen wir das Zuhause eines Warmshower- Gastgebers an. Bruno und seine Familie leben etwas ausserhalb und so müssen wir uns nicht durch die ganze Länge der Stadt kämpfen, sondern können uns sozusagen durch die Hintertüre an die Metropole anschleichen. Bruno arbeitet international und die französische Familie ist vor einigen Monaten aus dem Libanon hierhergezogen. Das riesige Haus befindet sich in einer eleganten Siedlung. Duschen, waschen und erholen ist einmal mehr angesagt. Wir erkunden Jerewan per Bus und zu Fuss und sind beeindruckt vom unerwartet aufgeräumten (Innen-) Stadt. Moderne Geschäfte, Restaurants, pompöse Gebäude, Parks und autofreie Einkaufsmeilen zieren das Stadtbild. Auf einer erhöhten Stelle befindet sich das Genocide Memorial. Diese Gedenkstätte erinnert an den grausamen Völkermord während und nach dem ersten Weltkrieg, der über einer Million Armeniern das Leben gekostet hat. Verantwortlich für die Todesmärsche und Massaker war das Osmanische Reich; die heutige Türkei. Allerdings weigert sich die Türkei bis heute, die bestens belegten Schreckenstaten zu bestätigen. In der Türkei wird dieses Kapitel der Geschichte verdreht und verleugnet und entsprechend angespannt ist die politische Situation zwischen Armenien und dem grossen Nachbar. Auch mit dem östlichen Nachbarland Aserbaidschan ist die Beziehung schwer belastet. Hier kommen zu alten ethischen Konflikten die frischen Wunden des Konflikts um Bergkarabach 2020. Die Grenzen zu beiden Ländern sind unpassierbar und so liegt Armenien wie ein langgezogener Korridor zwischen Georgien und dem Iran.

Der anfängliche geputzte Eindruck von Jerewan schwindet, als wir später auf einem ungewöhnlichen Pfad unsere Stadtrunde abschliessen. In einem kleinen, Abfall übersähten Tal geben zerschlissene Chilbibahnen ein trostloses Bild ab. Wenige Schritte weiter stossen wir auf die Kindereisenbahn von Jerewan. Während der Sowjetzeit wurde diese Anlage offenbar von Kindern betrieben. Heute sitzt ein alter Mann vor einem wackeligen Tisch und bietet einzelne Nastuchpäckchen, Kekse und süsse Säfte an. Ausser uns gibt es weit und breit niemand zu sehen. Die Lokomotiven und Wagen stehen geduldig zwischen den alten Bäumen und einmal mehr fühlen wir uns wie in einer Zeitmaschine.

Nach drei Nächten bei Bruno und Familie ziehen wir wieder los. Die Strecke heute ist etwas ganz Besonderes: Es ist flach! Unmittelbar vor uns ragen der majestätische Ararat (Masis) und sein kleiner Bruder (Sis) in den Himmel. Mit seinen über 5000 Metern Höhe ist der Ararat der höchste Berg der Region und es scheint uns unglaublich, dass wir mit unseren Velos aus der Schweiz bis zu seinem mächtigen Fuss gepedalt sind! Erst beim Blick vom Kloster Khor Virap erkennen wir, wie nahe die türkische Grenze ist. Lediglich 70 Meter entfernt schneidet ein dicker Stacheldrahtzaun die Ebene entzwei. Auf beiden Seiten sind militärische Einrichtungen zu erkennen und auf jedem kleinen Hügel scheinen Beobachtungsposten installiert.

Ein leerstehender Verkaufsstand neben der Strasse bietet sich als blickgeschützter Übernachtungsplatz an. Luxussicht auf die zwei stolzen Gipfel inklusive. Gerade, als wir unsere Velos durch das kleine Tor schieben wollen, hält ein Auto. Flaschen klirren und zwei Minuten später sitzen wir mit Colen und Gor mit je einem Bier in der Hand in der gemütlichen Sofaecke und unterhalten uns via Natel und ausufernden Gesten. «Kein Problem- hier schlafen ist sicher», meinen die beiden und verschwinden 20 Minuten später wieder, um zuhause ihre Kühe zu melken.  Wir richten uns ein, freuen uns wie kleine Kinder daran, dass auch noch die letzten Gipfelwolken verschwinden, geniessen unser unerwartetes Feierabendbier und kochen unser Abendessen. Kaum gegessen, taucht das Auto mit Colen und Gor wieder auf. Offenbar sind die Kühe erfolgreich gemolken, denn Gor stellt eine Petflasche voller frischer Milch auf den Tisch. Für unseren Krempel ist da ab sofort keinen Platz mehr, denn sogleich werden Lawasch, das armenische Riesenfladenbrot, Wurst, Käse und Schnaps ausgebreitet und wir werden fröhlich zum Zugreifen aufgefordert. So kurz nach unserem eigenen Abendessen folgen wir dieser Aufforderung eher zögerlich, doch die Gesellschaft ist wirklich sehr nett. Gor hat ein wundergar einnehmendes Lachen. Dieses verliert er nur kurz, als er mit einer eindringlichen Geste die Situation von Armenien zu beschreiben versucht. Seine linke Hand hält er flach vor sich hin und meint «Armenia!», während er die andere zur Faust ballt und damit wiederholt auf die flache Hand schlägt. «Turkey, Aserbaidschan» kommentiert er die Faust.

Wir erfahren, dass die beiden stolze Bauern sind auf dem Land, dass schon seit Generationen von der Familie bewirtschaftet wird. Beide haben Familie und scheinen mehrheitlich zufrieden zu sein mit ihrem Leben hier. Zum Abschied singen wir zusammen ein herzhaftes «Happy Birthday», trinken einen weiteren Schnaps und schon sind die beiden winkend und hupend wieder verschwunden und wir um einen Liter Rohmilch, ein riesiges Brot und eine weitere erfrischende Bekanntschaft reicher.

One comment

  1. Moser Edith

    Einmal mehr super euer Bericht! Es ist einfach toll, was ihr alles erlebt. Man möchte am liebsten als Mäuschen in eurem Gepäck dabei sein. Diesmal vermisse ich aber ein wenig die Bilder. Macht weiter so.

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