Die folgenden Tage zeichnen sich aus mit grossartiger Landschaft, unzähligen Höhenmetern und glücklichen Übernachtungsplätzchen. Wir folgen jetzt der M2, der einzigen Hauptstrasse, die Jerewan mit dem Iran verbindet. Die Strasse ist rund 373 km lang und führt uns gemeinsam mit Militärfahrzeugen und Lastwagen durch die armenische Bergwelt. Richtig gelesen, Militärfahrzeuge. Spätestens als wir nahe der aserbaidschanischen Westgrenze eine russische Fahne flattern sehen, wird uns klar, dass wir auf direktem Weg in ein frisches Konfliktgebiet sind. Russland hat Armenien im jüngsten (verlorenen) Krieg gegen Aserbaidschan unterstützt und ein Friedensabkommen ermöglicht. Der Konflikt ist vorerst pausiert, doch die russischen (Friedens-) Soldaten sind geblieben. Die M2 verläuft zuerst entlang der türkisch-armenischen Grenze und dann entlang der aserbaidschanisch-armenischen Grenze. Immer wieder erspähen wir Wachposten und Kasernen, Schützengräben, Stacheldrahtzäune und sonstige Konfliktvorkehrungen in der kargen Landschaft.
Nach zwei Tagen fahren wir in die Ortschaft Areni ein. Die Siedlung ist umgeben von Aprikosenplantagen, Weintrauben und Gärten und liegt spektakulär am Fusse einer senkrechten Felswand. Bei einem Verkaufsstand kaufen wir Eier ein und werden gleich noch zu einem Kaffee eingeladen. «Keine Zeit», meinen wir. «Es wird dunkel und wir müssen einen Platz für unser Zelt finden.» Alman versteht unser Problem und deutet sofort auf eine kleine Plattform neben seinem Stand. Nun, da unser Plätzchen gefunden ist, lassen wir uns sehr gerne zum Kaffee einladen, hat uns doch die abendliche Abfahrt einmal mehr ordentlich ausgekühlt.
Wir stellen unser Zelt auf, freuen uns an dem unerwarteten Komfort von fliessendem Trinkwasser gleich vor der Haustüre und gerade als wir Abendessen kochen wollen, winkt uns Alman erneut in seinen kleinen, geheizten Verschlag hinter den Auslagen. «Armenian Barbeque, come come», meint er in gebrochenem Englisch. So sitzen wir im Warmen und rollen gebratenes Fleisch, Bratkartoffeln und frische Kräuter in Lavaschstücke ein, als plötzlich eine weitere Touristin auftaucht. Katharina aus der Tschechei brauchte eine Auszeit vom Büro und so erkundet sie nun per Anhalter Armenien und Georgien. Unterwegs ist sie mit beneidenswert wenig Gepäck… und Skis. Katharina spricht russisch und englisch und so vereinfacht sich die Kommunikation mit unseren Gastgebern erheblich. Zum Schlafen reicht Katharina eine dünne Schaumstoffmatte und ihr Schlafsack, mit dem sie sich neben unserem Zelt einrichtet. Im Vergleich zu ihr sind wir mit unglaublich viel Material unterwegs! Katharina ist eine alte Anhalterhäsin. Schon ganze drei Mal ist sie von der Tschechei bis nach Südostasien per Anhalter gereist. Wir sind beeindruckt und lassen uns am nächsten Tag gleich davon inspirieren. Von der M2 führt unmittelbar nach Areni eine Nebenstrasse in ein spektakuläres Seitental. Wir schliessen die Velos ab, strecken den Daumen in die Luft und schon flitzen wir mit 50 km/h die 500 Höhenmeter zu einem Kloster hoch. Auch die Rückreise gestaltet sich äusserst einfach, ein Auto hält für uns, bevor wir überhaupt den Daumen hochhalten. Die nette Familie gibt uns zu verstehen, dass sie unterwegs einen Kaffee trinken wollen und völlig unkompliziert werden wir ebenfalls dazu eingeladen. Ohne viele Fragen zu stellen, bedeutet uns die Familie ebenfalls Kuchen zu essen, Sandwiches zu belegen und mit ihnen das kleine Geburtstagspicknick der 5-jährigen Tochter zu feiern.
So stehen wir wenig später unerwartet gut genährt wieder bei unseren Velos, wo wir sogleich einen wahren Meister der Steinbearbeitung kennenlernen. Überall in Armenien sind die kunstvoll behauenen Gedächtnissteine «Khachkar» präsent. Sie stehen in und um die armenischen Kirchen, bei Gedenkstätten, auf Hügel, auf Friedhöfen oder einfach am Wegrand und beeindrucken mit den detaillierten Motiven. Ruben ist 34 und übt sich seit rund 20 Jahren in der hohen Kunst der Steinbearbeitung. Mit der Lupe zeigt er uns sein aktuelles Werk: In einem runden Sujet sind die winzigen Gesichter der zwölf Apostel in Arbeit. Seine Arbeitswerkzeuge sind nicht viel mehr als dünne Drähte, mit denen er die winzigen Details ausarbeitet. Wir sind beeindruckt und uns unserer eigenen limitierten Fähigkeiten sehr bewusst. Für den Rest des Tages machen wir das, was wir im Moment am besten können: In die Höhe strampeln.
Nach weiteren zwei Tagen Höhentraining fahren wir in Goris ein. In diesem armenischen Kappadokien wollen wir nach den Strapazen einen Pausentag verbringen. Hier treffen wir Rosa. Aus einem Pausentag werden zwei, und erst nach drei Nächten brechen wir wieder auf. Das Wetter ist zwar weiterhin mehr oder weniger trocken, jedoch bläst ein unglaublich starker Wind. Wer öfters mal mit dem Velo unterwegs ist weiss: Wind ist des Radfahrers grösster Feind! Die vermeidliche Abfahrt entpuppt sich als eine Sackgasse: Die M2 ist wieder allen Recherchen unpassierbar, da die Strasse teilweise durch das neue Gebiet Aserbaidschans verläuft. Wir müssen umdrehen und die bereits vernichteten Höhenmeter mit viel Schweiss zurückverdienen. Kaum auf der Hochebene nimmt der Wind so richtig an Fahrt auf und wir kämpfen uns im kleinsten Gang im Schritttempo vorwärts. Die Windböen lassen uns unsinnige Bogen fahren und wäre das Wetter nicht so prächtig, wären wir bestimmt am Verzweifeln. Flucht nach vorne ist angesagt und diese führt uns auf einer spektakulären Serpentinenstrasse zuerst in die Tiefen der Worotanschlucht und gleich darauf wieder hoch in das Bergdörfchen Tatew. Kaum zu glauben, dass auf der steilen, gewundenen Strasse nicht nur PW`s sondern auch der gesamte Schwerverkehr zwischen dem Iran und Jerewan verkehrt. Die schwerfälligen Lastwagen kämpfen sich brummend und qualmend an der 12%igen Steigung ab. Da rundherum Schneeberge in den Himmel ragen und eine kalte Nacht angesagt ist, gönnen wir uns eine Unterkunft. Die nächsten Tage bringen die nächsten Pässe. Und erst nach weiteren gut 2000 Höhenmetern erreichen wir die Passhöhe des 2535 Meter hohen Tashtunpasses. Dieser imposante Riese ist der letzte Boss, der sich zwischen uns und die iranische Grenze stellt. In einem einzigen, langen Tag bezwingen wir diese Bergkette und sausen um sechs Uhr abends schlotternd auf der südlichen Seite ins Tal. Wir campieren einige Kilometer vor Mehgri. Die Aussicht, die sich uns bietet, ist höchst beeindruckend: Schroffe, kahle Felskanten rahmen das Tal stufenweise ein und öffnen sich zum Grenzfluss hin. Hier fliesst der Fluss Ares und markiert gemeinsam mit viel Stacheldraht und Befestigungen die Grenzen zwischen Aserbaidschan, Armenien und Iran. Grenzgebiet. Wir schauen direkt auf die aufragenden Berge Irans. Wir finden uns ein günstiges Zimmer nahe dem Grenzübergang bei Agarak. Eine Erkältung holt mich ein und so verbringen wir schlussendlich fast fünf Tage in diesem von Autofracks übersäten Ende der Welt. Wir freuen uns über die ersten Frühlingszeichen, beugen uns sorgenvoll über den furchterregend aussehenden Wetterbericht, warten auf unseren PCR-Test und lernen Gregory kennen, ein Engländer der ebenfalls mit dem Velo unterwegs ist.
Wir sind unglaublich dankbar, hat uns der Lauf der Dinge durch dieses wunderbare Bergland geschickt. Die vielen Pässe haben auch bei unserer Höhenmessung ihre Spuren hinterlassen: In den 13 Fahrtagen in Armenia haben wir über 11`000 Höhenmeter hinter bzw. unter uns gebracht!