Schon am Nachmittag treffen wir in Goris ein. Die Stadt liegt in einem Talkessel und ist umgeben von hohen Sandsteinbergen
Hier sind wir wieder sehr nahe an der Grenze zu Aserbaidschan bzw. dem Gebiet Bergkarabach, welches uns allen aus den Medien bekannt vorkommt. 2020 ist hier der Konflikt um das Gebiet erneut ausgebrochen und für einige Wochen herrschte hier ein offener Krieg. Nachdem wir in der Nachmittagssonne wieder aus unserer Abfahrts-Kältestarre aufgetaut sind, machen wir uns entspannt auf die Suche nach einer Unterkunft. Das Guesthouse, welches wir aufs Geratewohl ansteuern, existiert nur auf unserer Karte aber nicht in der Realität. Wir wollen uns gerade erneut auf die Suche machen, als und plötzlich eine Frau mit aufgesteckten Haaren und einem hellblauen Mantel fröhlich anspricht. Sie spricht russisch, wir sprechen mit Händen und Mimik und schnell wird klar: Sie bietet uns an, zu ihr nach Hause zu kommen. Wir haben Zeit und Kaffee klingt immer verlockend und so schieben wir bald unsere schweren Velos zurück in die Richtung, aus der wir gerade kamen. Die Frau heisst Rosa, scheint einen sehr lebendigen Charakter und eine gute Portion Energie zu haben und immer wieder unterbrechen wir den Marsch, damit sie lange Nachrichten in das Mikrofon meines Natels sprechen kann. «Ich will den Menschen helfen, wir müssen einander helfen», erklärt sie strahlend. Wir stahlen zurück und ächzen unter dem Gewicht der Räder. Wir verlassen das Zentrum, überqueren einen Brücke, und schieben die Räder einen kleinen Pfad entlang «Das ist mein Lieblingsnachhauseweg!», verkündet Rosa stolz. Wir biegen von der Strasse ab und Rosa klaubt die Hausschlüssel aus ihrer Handtasche. «Mein Haus!», ruft Rosa und stösst ein rostiges Tor auf. Der Zaun links und rechts des Tores hat schon bessere Zeiten gesehen. Die einzige Mauer ist völlig zerfallen und an ihrer Stelle wurden Betonbrocken, Draht und Blechstücke notdürftig aufgetürmt. Natürlich freuen wir uns mit Rosa jetzt zuhause zu sein, doch es entgeht uns schwerlich, dass das Haus eine ziemliche Bruchbude ist. Armierungseisen gucken frech aus dem verbleibenden Beton, Türen hängen unbrauchbar schräg in ihren Angeln und ausgediente Küchengeräte stehen herum. Die Toilette und die Dusche sind gleich neben der Garage und wirken gelinde gesagt sehr einfach. Wir stellen die Velos ab und folgen Rosa über die Aussentreppe in den oberen Stock. Die Treppe… Einst eine Konstruktion aus Metall und Beton besteht jetzt aus grossen, herausgebrochenen Betonstücken, die behelfsmässig auf die Metallträger aufgelegt wurden. An den Stellen, wo der Beton völlig zerbröselt ist, überdecken wackelige Holzbretter die Lücken. Wir klettern also hoch in die sehr einfache Stuben/ Küche und werden sogleich auf die Sitzbank gesetzt. Rosa jubelt «Kaffee, Kaffee» und setzt das Wasser auf. Die Frau ist uns sehr sympathisch und wir sind berührt, dass sie absolut keine Scheu zeigt, uns in ihr ärmliches Haus einzuladen. Wir trinken Kaffee und unterhalten uns fleissig via Natel. Offenbar leben hier noch zwei weitere Personen, Sarina und ihr Sohn. Sarina ist gesundheitlich angeschlagen und Rosa unterstützt sie. Rosa wirbelt herum, plaudert lange Nachrichten in die Übersetzungsapp und erzählt uns erste Einzelheiten aus ihrem Leben. Irgendwann trudelt dann auch die etwas ältere Sarina ein. Sie scheint nichts gegen unsere Gegenwart zu haben, jedoch wirkt sie auch etwas überfordert mit uns zwei Ausländern, die überhaupt keine nützliche Sprache sprechen. Sie lächelt scheu und murmelt vor sich hin. Gerne nehmen wir das Angebot zum Duschen an und erfrischt erkunden wir späteren Nachmittag die besonderen Felsformationen gleich neben der Stadt. Als wird am Abend wieder zu unserem ungewöhnlichen Zuhause zurückkehren, ist Rosa noch immer an der Arbeit und Sarina lässt und freundlich ein. Wir setzten uns auf die kleine Bank hinter dem wackeligen Esstisch und warten. Der Röhrenfernseher läuft und quietscht. Auf dem russischen Kanal rieseln Bilder von dem Konflikt in der Ukraine über den Bildschirm. Sportliche Supersoldaten mit Go-Pros auf dem Helm wandeln durch Strassen und quasseln engagiert in die Kamera. Westliche Politiker halten Ansprachen in einem Parlament und werden mit einem grossen, roten «Fake»-Kleber überdeckt. Bilder von zerstörten Wohnblocks in der Ukraine- mit «Fake» Kleber. Bilder von russischen Witwen, die von hochrangigen Militärs tröstende Blumenbouquets überreicht bekommen. Endlose Bilderflut aus dem Leben der getöteten- neue Volkshelden.
Sarina gestikuliert auf die Uhr: Rosa kommt später. Sie döst in ihrem Sessel vor sich hin und wir warten und warten und essen schliesslich unsere restlichen Kekse auf. Das mit dem Abendessen hätten wir mit Rosa besser absprechen müssen.
Am nächsten Morgen ist Rosa wieder da, und die Kommunikation via Natel fliesst in Strömen. Rosa will uns unbedingt eine Kirche zeigen in der Nähe und so stapfen wir bald mit ihr durch die Gegend. Hoch zum Friedhof- hier küsst sie einen der grossen Grabsteine mit den Bildern der verstorbenen. Ihr erster Ehemann, wie wir bald herausfinden. Weiter geht’s auf eine kleine Aussichtsplattform. Hier bewundern wir jubelnd die Schönheit Goris. Als nächstes zerrt sie uns in eine kleine Grotte mit unzähligen Jesusbildern, Kerzenstummeln und einigen Hühnerköpfen. Hier wird zu Gott gesprochen. Rosa betet für unsere weitere Reise, Kindersegen und allerlei anderes.
Der Rundgang ist damit aber noch nicht beendet. In den folgenden vierzig Minuten stiegen wir in den Aussichtsturm eines Hotels, «Da habe ich mal gearbeitet», besuchen ein Museum über einen armenischen Dichter, quetschen uns in ein Sammeltaxi und sitzen schliesslich in der kleinen Imbissbude, wo Rosa auch heute arbeitet. Wir trinken einen leckeren Hagenbuttensaft und machen uns dann auf den Weg, die Stadt selbst zu erkunden.
Unsere Versuche, uns heute um ein Hotel zu kümmern wurden lautstark abgelehnt und so trudeln wir beim Eindunkeln wieder bei Rosa ein. Am zweiten Morgen- unsere vermeidlichen Aufbruchstag steht Rosa schon längst in der Küche und knetet und kocht die leckersten Teigtaschen, die wir uns vorstellen können. Heute ist der Tisch reich gedeckt und wir wären perfekt gestärkt für einen anstrengenden Fahrtag- doch ich fühle mich eher wackelig an den Beinen und schon bald ist das Programm vollkommen umgestellt: Simone schläft gut zugedeckt auf der Küchenbank, Louie geht nochmals Lebensmittel für alle einkaufen, Rosa wirbelt herum, Sarina ist auch irgendwie da und wir bleiben eine weitere Nacht. An diesem letzten Abend tischen Rosa und Sarina nochmals herzhaft auf und wir fühlen uns schon fast als ein Teil dieser Patchworkfamilie. Der Abschied am nächsten Morgen fällt schwer und wird begleitet vom Ratschlag, uns von den Aserbaidschanern im Konfliktgebiet bitte nicht erschiessen zu lassen.
Wir schieben unsere Velos aus dem kleinen Hof auf die Strasse, winken zum Abschied und Rosa giesst einen Kübel Wasser auf den Boden. «Unser Brauch», tippt sie noch hastig in das Natel. Wir stürzen uns in den heftigen Wind und wünschen Rosa und Sarina nur das Beste.
wunderbare geschichte!
eindrückliche frau!
herzlich, brigitte