In der Lagune
In der Lagune

In der Lagune

Wir lassen das kleine Städtchen Pol-e Dhoktar hinter uns und stellen mit Erstaunen fest, dass das Tal nun einer trockenen, hügeligen Steinwüste weicht. Wir folgen nun nicht mehr dem Fluss Kashkan und haben darum tiefe Erwartungen, als wir in eine kleine Seitenstrasse zu einem ausgeschilderten «Lagoon» einbiegen. Fünf Minuten später sind wir hell begeistert und bestaunen ungläubig die Eukalyptusbäume, die die grosse Senkung begrünen. Das Herzstück dieses wunderbaren Ortes sind zwei kleine, schilfgerahmte Seen. Wir atmen Eukalyptusduft ein und freuen uns an den zahlreichen iranischen Familien, die zwischen den Bäumen und Felsbrocken Picknicks zelebrieren. Ein tolles Übernachtungsplätzchen ist bald gefunden und wir machen uns auf Erkundungstour. Einige der iranischen Picknickgruppen haben sich für längere Zeit hier eingerichtet. Angereist sind sie gleich mit kleinen Lastern, die all die Zelte, Matten, Küchengeräte und Kocher transportieren. Wohin wir auch kommen, sofort erwarten uns freudige «Hello, where are you from»- Rufe gefolgt von energischen Einladungen zum Tee, zum Hinsetzen oder Mitessen folgen. Die Stimmung ist entspannt und wir hören Gelächter, riechen leckere Grillwaren, den süssen Rauch der Wasserpfeifen und bewundern die bunten iranischen Einheitszelte, die überall zu sehen sind. Schliesslich erreichen wir das Lager des Razavi Clans. Diese Grossfamilie ist wie viele hier aus Pol-e Dhoktar angereist und verbringt gleich mal eine ganze Woche gemeinsam in der Lagoone. Diverse grosse Zelte umgeben ihr «Revier» und die Alterspanne der rund 45 Leute reicht von wenigen Wochen bis zu 80 Jahren. Was für eine Jubel-Trubel-Heiterkeit! Wir werden lautstark willkommen geheissen. Der selbsternannte Wortführer lässt es sich nicht nehmen, unsere Ankunft über ein Mikrofon zu verkünden. «I am single», ruft Amir in gebrochenem English ins Mikrofon. «I need Swiss wife!» Gelächter bricht aus. «Mr. Louie», verkündet er in die Menge. «Hello Mr. Louie!» Einige Frauen ziehen an einer Wasserpfeife, die Grossmutter drückt mir einen spontanen Kuss auf die Wange und wir setzen unseren Rundgang fort mit dem Versprechen, zum Abendessen vorbeizukommen.

Eine nächste Familie bäckt gerade eine lokale Spezialität auf dem Feuer und drückt uns etwas von der süssen Köstlichkeit in die Hand. Wir plaudern auch hier ein bisschen und schlendern dann weiter. Als nächstes werden wir von einem englisch-sprechenden Engineer und seiner Frau mit Nachdruck zur Übernachtung in ihrem Haus in Pol-e Dhoktar eingeladen. Hier sei es kalt und gefährlich in der Nacht, meint er. Wir lassen uns aber nicht überzeugen und bestehen darauf, die Nacht in der Natur zu verbringen.

Seit wir Hamedan hinter uns gelassen haben, legen uns die Menschen immer wieder ans Herzen, doch bitte wirklich vorsichtig zu sein, gut auf unsere Sachen aufzupassen und uns vor den bösen Menschen in Acht zu nehmen. Ein Phänomen, das uns immer wieder amüsiert. Die «nächsten» Menschen sind bestimmt schlechte Menschen. So richtig begonnen hat dieses Spiel in Griechenland, die ausnahmslos Schlechtes über die Türken zu berichten hatten. In der Türkei waren es dann die Kurden, bzw. die Menschen im Osten, vor denen man sich in Acht nehmen musste. In Georgien standen die Russen unter Verdacht, in Armendien die Aserbaidschaner und im Iran bald einmal die Loren oder die Menschen in der Bergen oder… Unsere Erfahrungen zeigen: Auf solche Warnungen ist wenig zu geben. Überall auf unserer Strecke sind wir bis jetzt auf herzensgute, wunderbare Menschen gestossen, unabhängig von ihrer Herkunft oder kulturellem Hintergrund. Nur eine Bevölkerungsgruppe schätzen wir persönlich als potential gefährlich ein: Teenager-Jungs im Stimmbruch und dabei ganz besonders Teenager-Jungs mit Stimmbruch und Töffs.

Wir geniessen einen ruhigen Moment bei unserem Versteckten Zeltplatz und lassen uns dann auf das Abenteuer Razavi-Clan ein. Mittlerweile ist es dunkel und ein prachtvoller Sternenhimmel erstrahlt über uns.

Der Abend wird erwartungsgemäss lustig. Wir werden verpflegt und ausgefragt und bald wird werden Trommel und Tröte hervorgeholt und in wilden Kreistänzen Staub aufgewirbelt. Die Männer und Frauen tanzen in getrennten Kreisen und auch wir werden in die lorischen Tanzschritte eingeführt.

Noch lange hören wir die Musik und Rufe von den Razavis, auch als wir schon längstens in unserem Zelt liegen und in den Schlaf gleiten.

Am nächsten Morgen wecken uns die zahlreichen Vögel und uns wird bald klar: Wir wollen eine weitere Nacht und vor allem den ganzen Tag an diesem besonderen Ort hier verbringen. Heute ist der Siz-Dar-Be-Tar; der 13. Tag nach Nowruz und die Iraner haben heute einen bösen Jinn (Geist) in der Wohnung, dem man am besten aus dem Weg geht. So werden im ganzen Land Körbe, Kocher und Kinder gepackt und man fährt in die Natur für ein grosses Picknick. Dieser Tag bezeichnet das Ende der zweiwöchigen Ferien und wird dementsprechend genossen. Die waldige Lagune füllt sich bald mit Familien aus Nah und Fern und das Festival-Gefühl ist perfekt.

Am Nachmittag verbringen wir noch einmal Zeit mit dem Clan und dieses Mal sitze ich mit einer Gruppe von Frauen beisammen, während Louie den Männern beim Kartenspiel über die Schultern schaut.

Dank der Übersetzungsapp können wir uns unterhalten und ich erhalte so spannende Einblicke in das Leben als Frau in dieser Umgebung. Was ganz klar ist: Diese Frauen sind stolz auf ihre Herkunft und Tradition, auch wenn das bedeutet, dass vornehmlich traditionelle Gesellschaftsmuster vorherrschen. Erstaunt lerne ich, dass sie alle normalerweise das schwarze Zelt, den Tschador tragen, wenn sie aus dem Haus gehen. Hier in der Lagune sind die Regeln offenbar etwas lockerer und ein buntes Kopftuch genügt. Während manche Frauen den Tschador selbstgewählt tragen, meinen andere, dass sie von ihren Brüdern und Männern dazu angehalten werden. Diese würden sich sonst Sorgen um ihre Ehre machen, da Pol-e Dhoktar eine Kleinstadt ist. In Teheran würde man kein Kopftuch tragen meinen sie und schon sind wir beim nächsten Thema: Haarfarben. «Ist das deine natürliche Haarfarbe?», fragt eine und deutet ungläubig auf meinen hellen Schopf. Plötzlich lassen alle ihr Kopftuch verrutschen und wir bewundern unsere Haare gegenseitig. «Fake», meint jemand und deutet auf die Nase einer Cousine. Nacheinander zeigt sie auf sämtliche Nasen in der Runde und stuft sie unter Gelächter als «Fake» oder «Natural» ein. «Only five millions in Pol-e Dhoktar», kostet so eine OP. Menschen mit Pflastern auf der Nase und andere mit verdächtig geraden Riechorganen sind hier ein alltäglicher Anblick. Das Gespräch wandert zum Kinderkriegen «in Lorestan: Boy is good!» und Heiratsalter. Die jüngste Verheiratete in der Runde ist gerade einmal 16 Jährchen alt. Andere heiraten aber auch bedeutent später. Die forsche Safine neben mir ist bereits 26, unverheiratet und bittet mich, in der Schweiz einen Mann für sie zu finden. Die grosse Liebe soll es dann aber schon sein. Ein wunderbares Zitat, welches jubelnde Zustimmung findet kommt ebenfalls aus ihrem Mund: «We are pennyless but cool», tippt sie in mein Natel.

Schliesslich bewegen wir uns alle zum See hinunter, wo die Männer bereits munter im erstaunlich kalten Wasser plantschen und die Frauen maximal die Zehen abkühlen.

Erst als wir uns erneut vom Clan verabschiedet haben und die Zuschauerdichte etwas abgenommen hat wage auch ich den Sprung ins erfrischende Nass- natürlich vollständig bekleidet.

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