Wir verabschieden uns von Fatma Nur und Bilgen und fahren erstmal auf den Mond. Wir trampeln durch eine weiss schimmernde Hügellandschaft und fragen uns, ob wir wohl die letzten verbleibenden Menschen auf dem Planeten sind.
In dieser Gegend wird Marmor abgebaut. Die Hügel und der Boden sind kahl, nur borstiges Gras vermag hier zu wachsen. Die Strasse ist das einzige Zeichen der menschlichen Omnipräsenz und verschwindet in der Ferne im Dunst der Weite. Irgendwann sind wieder häufiger Hirten und ihre Herden zu sehen und unseren Übernachtungsort finden wir in einem kleinen Dorf, welches sich in einer grossen Senke vor dem Wind versteckt. Einige Teenager haben nahe der Moschee ein Feuer entfacht und rufen bei unserem Anblick einen englischsprechenden Onkel an. «What do you want in my village», fragt uns schon bald der elegante Herr, der nicht so recht in diese Szene passen will. Schnell stellt sich heraus: Wir sind willkommen. Für die ersten Touristen hier wird der Schlüssel für die ungenutzte Teestube aufgetrieben. Während Louie auf unserem Benzinkocher unser Abendessen kocht, unterhalte ich mich mit den Jungs am Feuer über das Leben und ihre Wünsche. Sie alle wollen nicht hier im Dorf bleiben, sondern in der Stadt wohnen. Nein, nein, sie würden in der Stadt niemals das Dorf vermissen, meinen sie auf meinen Einwand hin. Ob sie denn auch kochen können, frage ich sie und deute auf Louie. Die Antwort fällt uneinig aus. Inez, der Mutigste der Gruppe schüttelt entschieden den Kopf. «Ohne eure Frauen würdet ihr ja verhungern», tippe ich darauf in mein Telefon. Inez tippt zurück: «Unsere Frauen sind sehr wertvoll!» Auf meine Frage noch der üblichen Freizeitbeschäftigung ist die Antwort hingegen sehr schnell und einstimmig: «Phone!». Irgendwann verabschieden sich Inez und seine Freunde Richtung zuhause. Natürlich nicht ohne uns noch mit einer handvoll frisch gepflückter Äpfel zu beschenken.
Wir richten uns auf dem Boden der Teestube unser Nachtlager ein und werden mitten in der Nacht von Sturmgeräuschen geweckt. Wir retten unsere Velos in die Teestube, gucken zu wie eine Strassenlaterne in Funken aufgeht und können unser Glück nicht fassen, von den Jungs in diesen Sturmfesten Raum eingeladen worden zu sein.
Am nächsten Tag ist der Himmel wieder stahlblau und die Luft klirrend kalt. Was für ein Temperatursturz! Es ist anfangs November und der Winter scheint uns nun doch noch einzuholen.
Wenige Kilometer nach dem Dorf stolpern wir in das Treiben eines bunten und lauten Wochenmarktes. Wir lassen uns zwischen den Ständen treiben, bewundern die Reichhaltigen Auslagen, amüsieren uns an den Fischverkäufern, die ihre Ware unnötig laut und ausschreiben, kaufen frische Mandarinen für 20 Rappen das Kilo, Blaukäse, Knabberwaren, neue Gewürzmischungen für unsere Eintöpfe, Simet (Sesamkringel) für den «Gluscht», Knoblauch und weitere Kleinigkeiten und dürfen nur etwa die Hälfte davon auch wirklich bezahlen. Die Händler recken das Kinn nach oben und geben ein schnalzendes Geräusch von sich. Der etwas gewöhnungsbedürftigen Geste begegnen wir häufig und wissen sie daher als `Nein`, zu deuten.
Auch heute suchen wir einen Windschutz für unser Zelt und da weit und breit kein Baum wächst, suchen wir im kleinen Dorf Saçikara nach einem geeigneten Plätzchen. Da wir jeweils auch Wasser auffüllen müssen, ist stets die Moschee unser Startpunkt für so eine Suche. Es dauert nicht lange und der lokale Imam liest sich durch unseren Magic Letter. Nach einem kurzen Telefonat mit Dorfpatron werden wir von Ismael (Imam) in die zurzeit leerstehende Koranschule gewinkt. Was für ein Glück! Teppichboden, ein Lavabo und sogar ein WC versprechen unerwarteten Komfort. Doch der Imam, der mit seiner Familie in der Wohnung über der Schule wohnt, lässt sich nicht lumpen und wenige Minuten nach dem Abendgebet betritt er den Raum mit dampfenden Tellern. Das Essen ist vorzüglich und der jung wirkenden Ismael deutet auf seine eher umfangreiche Körpermitte und meint «Ich bin der beste Beweis für die Kochkünste meiner Frau!»
Der kleine Ofen im Klassenzimmer wird trotz unserer Wiederreden eingefeuert, Matratzen-Kissen herbeigebracht und schon bald können wir unsere Jacken ablegen, geben jegliche Selber-Koch-Vorsätze auf und freuen uns über die wohlige Wärme.
Ganz wunderbar an der türkischen Gastfreundschaft ist, dass sie zum einen sehr aufmerksam ist- der obligate Teekrug kommt sogleich auf den glühenden Ofen, und das frische WC Papier vor das Klo- aber die Gastgeber uns jeweils auch wieder in Ruhe lassen und uns etwas Zeit und Raum für uns geben. Ein Vorteil ist es hier sicher, als verheiratetes Paar aufzutreten. Dieses Konzept ist verständlich und natürlich für sie und wird entsprechend problemlos akzeptiert.
Auch am nächsten Morgen können wir Ismael nicht davon überzeugen, dass wir uns problemlos selbst versorgen können. Als ich mich beim Abschied zum wiederholten Male für die Gastfreundschaft und das Essen bedanke, tippt er in sein Telefon: «The more comfortable you are, the more comfortable we are!» Auch er äussert den Wunsch, dass wir mithelfen, den Islam und seine Anhänger in unserer westlichen Welt in ein positiveres Licht zu rücken, als die Medien das tun.
Dieser weitere sonnige, aber kalte Fahrtag führt uns erneut hoch in die Berge und in unser kältestes Camp bis jetzt. Die Wasserflaschen im Zelt drin frieren ein und am Morgen müssen wir das Zelt zuerst von einer dünnen Eisschicht befreien, um es dann in der Morgensonne trocknen zu lassen. Da wir unser Nachtlager auf dem Aufstieg über einen weiteren Pass aufgeschlagen haben, heizt uns die Steigung aber schon bald wieder ordentlich ein und die -5 °C der Nacht sind schnell vergessen. Auf der Höhe ragen imposante Windturbinen in den Himmel. Wir beschliessen die Velos auf der Passhöhe stehen zu lassen und zu Fuss noch etwas weiter hochzusteigen. Dieser Marsch beschert uns eine lustige Begegnung mit einem wild aussehenden Hirten und seinen 500 Schafen und nach einem Picknick in der Sonne mit grandioser Aussicht eine Einladung zum Tee in die Substation der Windenergieanlage. Die jungen Ingenieure scheinen sich über die Abwechslung zu freuen und fahren uns im Anschluss im Geländewagen über die höchst abenteuerliche Strasse direkt zu unseren Velos zurück. Die karge, hügelige Landschaft bleibt uns bis zur Grossstadt Konya erhalten. Wir trauen unseren Augen kaum, als sich in der Abenddämmerung die sterilen Wohnsiedlungen abzuzeichnen beginnen. Die Stadt ergiesst sich in die riesige Ebene von Konya und bietet modernen Komfort für ca. 1.5 Millionen Menschen. Die Aussenquartiere und Strassenadern sind sehr grosszügig angelegt; Velowege, viele Grünanlage und sogar eine Strassenbahn sind Programm. Konya gilt als konservativste Stadt der Türkei, was sich in entsprechenden Wahlergebnissen, der Moscheendichte und der weiblichen Garderobe niederschlägt. Trotzdem ist Konya auch eine Studentenstadt und diese bevölkern die interessante Innenstadt. Nach Bars sucht man aber vergebens: Unsere Gastgeber erzählen uns später, dass ihier die Parties vorallem in Privatwohnungen stattfinden. Nach sechs Jahren in Konya kennen sie gerade einmal drei Bars. Nach Konya haben uns verschiedene Dinge gelockt. Ganz oben auf der Liste steht das Mevlana Museum in Konya. In dieser Stadt hat vor rund 700 Jahren der grosse persische Dichter Rumi gewirkt. Er hat den mystischen Islam gelebt und die Sufi-Bruderschaft Mevlevi mitbegründet. Berühmtheit hat dieser Orden insbesondere durch die «Whirling Derwishes» erlangt. In einem pompösen, eigens dafür erbauten Kulturzentrum kommen wir dann auch tatsächlich in den Genuss dieses besonderen Rituals.
Aus den geplanten zwei Nächten in Konya werden drei, da wir beide doch etwas unter den harschen Temperaturen gelitten haben und die zwöf Fahrtage arg an uns gezehrt haben. Die beiden Kolumbianer Jonatan und Arling teilen ihr komfortables Zuhause mit uns, verwöhnen uns mit leckerem Essen, Halswehtabletten, heisser Schokolade mit Käse drin und ihrer Unkompliziertheit. Die beiden leben, studieren und arbeiten schon mehrere Jahre in dieser überraschend sympathischen Grossstadt und planen jetzt ihre Rückreise zurück in das tropische Bogota. Wir sind den beiden sehr dankbar und geniessen den südamerikanischen Vibe in ihrem Zuhause.