Bei Zehra und Bedri
Bei Zehra und Bedri

Bei Zehra und Bedri

Die Sonne bestimmt über unsere Tage. Scheint sie, so lassen sich Höhenmeter, Gegenwind und schmerzende Beine locker ertragen. Versteckt sie sich aber hinter den Wolken dann vermischt sich unser Schweiss mit der Kälte, die Nase läuft und die Füsse und Hände werden taub. Heute wollen wir es bis nach Göksun schaffen, die nächste grössere Stadt in diesem Hochtal, und uns dort eine Unterkunft mit Dusche suchen. Nach dreissig schweisstreibenden Kilometern durch hügeliges Gelände und abgelegene Dörfer und überraschenden Ruinen aus der Römerzeit, erreichen wir die Hautstrasse, an der wir wieder etwas mehr Zivilisation erwarten. Wir haben falsch gedacht. Weit und breit gibt es keinen Laden und somit auch kein Mittagspicknick für uns. An einer Tankstelle retten wir uns aus der Kälte in das beheizte Hinterzimmer und dürfen uns da ohne viele Worte eine Nudelsuppe kochen. Der junge Tankwart spricht zwar etwas türkisch, kann aber nur arabisch lesen, und so übersetzt mein Natel zum ersten Mal unsere Anfrage auf arabisch! Mittlerweile verschlechtert sich das Wetter weiter und zum Gegenwind gesellt sich auch noch Regen. Wir sind nicht fit heute. Die 1200 Höhenmeter und über achtzig Kilometer vom Vortag stecken wir doch nicht so leicht weg und nach einer kalten Regenfahrt im Gegenwind ist es uns auch nicht unbedingt. Göksun ist noch gute vierzig Kilometer entfernt und es ist hoffnungslos, diese Distanz unter diesen Voraussetzungen noch bei Tageslicht zu schaffen.

Wir packen uns schliesslich trotzdem in unsere gesamte Regenausrüstung ein und fahren zum nächsten Weiler in der Hoffnung, dort wenigstens irgendwelche Lebensmittel und möglicherweise einen geschützten Übernachtungsplatz zu finden.

Der einzige Mensch, der bei dem unfreundlichen Wetter draussen anzutreffen ist, spreche ich an und keine zehn Minuten später sitzen wir im warmen, trockenen Schlaf- und Wohnzimmer von dem jungen Ehepaar Bedri und Zehra. Es dauert nicht lange und die 25-jährige Zehra stellt zwei Schüsseln Mantli vor uns hin- türkische Miniravioli- und es steht fest: Wir sind willkommen und dürfen selbstverständlich die Nacht hier verbringen. Was für ein Glück! Die Kommunikation läuft dank unseren Mobiltelefonen wunderbar und schon bald besucht Louie in regelmässigen Abständen zusammen mit Bedri dessen 40 Schafe im nahen Stall um sie zu mit allerlei zu füttern, zu bewundern und nach ihnen zu schauen. Ich habe währenddem Gelegenheit, mich mit der quirligen Zehra zu unterhalten. Zehra ist noch fünf Monaten Ehe bereits schwanger mit dem ersten Kind und die beiden haben am Vortag erfahren, dass es ein Junge wird. Die Aufregung über uns zwei exotischen Wesen ist natürlich gross und bereits werden wir auf Fotos in den jeweiligen Familienchats Instagram und Facebook bekannt gemacht. Bald kriegt Zehra einen Anruf der Schwiegermutter, die natürlich alles ganz genau wissen will. Es wird unter anderem berichtet: «Simone fährt die ganze Zeit Velo und wiegt nur 40 Kilogramm!»

Zu unserer grossen Freude bieten uns die beiden eine warme Dusche an. Dankbar nehmen wir an. Jetzt, zwei Stunden später stellen wir fest, dass dieses Angebot keineswegs eine einfache Sache ist: In einem schlichten Raum wurde für unsere warme Dusche eigens ein Feuer entfacht, um das Wasser im Boiler zu erhitzen. Mit etwas schlechtem Gewissen geniessen wir den Luxus des warmen Wassers und sind beeindruckt über die funktionelle Einfachheit des Lebens hier.

Nach der Hochzeit musste Bedri ein Darlehen aufnehmen, um die Anschaffungen für den neuen Haushalt tätigen zu können. Wie üblich in den ländlichen Gebieten der Türkei, ist Zehra vollzeit- «Ev-kadin-ni»:Hausfrau. Bedri arbeitet mit Maschinen. Um die anfallenden Lebenskosten zu decken, seien 5000 Lira monatlich notwendig, meinen die beiden. Der festgelegte Minimumlohn beträgt jedoch lediglich 2800 Lira im Monat. Der türkischen Wirtschaft gehe es schlecht, fügt Bedri an und wir kommen auf die Währungsumrechnung zu sprechen. Mit Schrecken stellen wir fest, dass die türkische Lira allein während den letzten vier Wochen über 20% ihres Wertes gegenüber dem Euro verloren hat. Eine Katastrophe für das Land und plötzlich können wir uns die absurd steigenden Benzinpreise erklären. Von 7 Lira pro Liter sind diese ihn den letzten Wochen auf bis zu 9 Lira pro Liter gestiegen. Für uns Ausländer bedeutet dieser Kursverlust Vorteile. Die Konsequenzen für die Einheimischen sind dagegen hart. Der Brotpreis hat sich verdoppelt. Alles wird teurer. Reisen ins Ausland werden unerschwinglich. Ausländische Darlehen der Unternehmen werden untragbar, die Folgen betreffen die Arbeiter, Zulieferer, Rohstoffpreise etc. etc.

Später am Abend überraschen uns die beiden mit einem wunderbaren Abendprogramm: Zehra tischt Popcorn und andere Leckereien auf und wir gucken zusammen einen Netflixfilm mit englischen Untertiteln. Warm, sauber, Popcorn und Trashfilm- wir sind im Himmel!

Nach einem fantastischen Frühstück lassen uns sie beiden am nächsten Tag ungern ziehen. Vier Lebensläufe, die sich so zufällig berührt haben und jetzt wieder auseinanderdriften. Wir wünschen den zweieinhalb nur das Beste und werden sie nicht so schnell vergessen!

Mit frischen Beinen strampeln wir direkt in die Grossstadt (Karaman-)marash. Hier gönnen wir uns drei Nächte in einem Hotel, um für einmal wirklich «Bürozeit» zu haben. Wir brauchen Zeit, um all die Eindrücke der vergangenen Tage und Wochen zu verarbeiten, unsere müden Beine zu strecken, unsere Kleider zu waschen, zu telefonieren und für einmal einfach «nichts» zu tun.  Auch steht wieder einmal etwas Routenplanung auf dem Programm. Eine Tagesetappe auf der Hauptstrasse bringt uns nach Gaziantep. Ab nun fahren wir parallel zur syrischen Grenze gegen Osten und tauchen wieder einmal ein in eine völlig neue Welt.

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