Diese ersten Fahrtage im Iran sind zäh. Es bleibt kalt, der Wind macht uns ebenfalls zu schaffen und allmählich ist unser Vorrat an Durchhaltevermögen ausgeschöpft. Wir denken zurück und rechnen: Letzten November wurde es allmählich richtig kalt. November, Dezember, Januar, Februar, Mitte März… das sind ganze 4 ½ Monate kalte Füsse, kalte Hände, schlotternde Abende und dick eingepackt im Schlafsack. Wir sehnen uns nach Wärme, nach Sandalen, einlagigen Tenues, fahren ohne Handschuhe, gemütlichem draussen Sitzen und grünen Blättern an den Bäumen.
Stattdessen kämpfen wir gegen den eisigen Gegenwind an, haben unsere Buffs über den Hals und Hinterkopf gezogen und müssen weiterhin alle paar Minuten unsere Nasen ausblasen, weil der Wind sie stetig laufen lässt.
Zweifelslos beginnt der Frühling immer deutlicher seine Arme auszustrecken, je länger und weiter wir in den Süden fahren. Auf den ausgedehnten Feldern ist ein grüner Flaum sichtbar, die Knospen an den Bäumen werden immer dicker und erste Blumen hier und da lassen unsere Hoffnung wachsen.
Der Weg nach Hamedan testet noch einmal unseren Willen. Nach vierzig Kilometern erreichen wir eine abgelegene Siedlung, werden von den Dorfbewohnern freudig begrüsst, fotografiert und ausgefragt und stellen dann fest, dass die Strasse ab hier absolut unpassierbar ist. Es reichen wenige Fahrmeter um unsere Reifen und Schutzbleche sind mit zähem Schlamm verklebt. Das Dorf ist zu klein um auf eine Mitfahrgelegenheit für die kritischen fünf Kilometer zu hoffen. Wir müssen umdrehen und fast die ganze Tagesstrecke wieder vernichten. Der Frust ist gross und die Freude umso grösser, als wir mindestens für die Rückfahrt einen Pickup stoppen können. Die Familie setzt uns irgendwo im Niemandsland ab und weist uns mir einer Handbewegung die Richtung nach Hamedan. Wir lassen unsere Karten rechnen und stellen fest: Die Distanz ist eigentlich gleichgeblieben, aber mindestens erwartet uns jetzt wieder geteerter Untergrund. Gegen Abend hat sich die Umgebung geglättet und auf beiden Strassenseiten breiten sich riesige Felder auf. Der Wind bläst, wir strampeln und fragen uns, wo wir in dieser Landwirtschaftsebene ohne Bäume, Häuser oder sonstige Unebenheiten einen geschützten Übernachtungsplatz finden sollen. Da knattert uns Ali Reza auf seinem Töff entgegen. «Wo wollt ihr hin?», fragt er erstaunt. Wir kommunizieren in Pantomime unsere Suche nach einem Zeltplatz für die Nacht und schon bietet er uns an, zu ihm zu kommen. Er deutet auf ein niederes Pumphäuschen, welches ein Stück von der Hauptstrasse entfernt mitten in den Feldern steht. Dieses haben wir natürlich schon von weitem erspäht und als Möglichkeit in Betracht gezogen. Allerdings wirkte das Gebäude aus der Ferne bewohnt. Spätestens als uns Ali auf seinem Telefon Bilder von seiner Familie zeigt, entscheiden wir uns, ihm zu vertrauen und das Angebot anzunehmen. Ali überwacht hier das Bewässerungssystem für die Kartoffelfelder und zeigt uns das Wasserbecken, in das aus über 220 m Tiefe Grundwasser hochgepumpt wird. Wir staunen und wundern uns. All das Wasser, dass hier und an vielen Orten in dieser Weltengegen an die Oberfläche gepumpt wird, um in einer eigentlich trockenen Umgebungen Bedingungen für die Landwirtschaft zu schaffen… Ist das Nachhaltig? Was, wenn das Untergrundreservoir leer gepumpt ist? Wohin transportiert der Wind die Feuchtigkeit, die hier verdunstet?
Wir stellen keine solch komplizierte Fragen, sondern geniessen Alis entspannte Gastfreundschaft und sind froh, dürfen wir in einem windgeschützten Raum übernachten.
Der nächste Tag bringt mehr Wind exakt aus der Richtung, in die wir wollen. Wir stürzen uns in die Böen, kommen kaum vom Fleck und beobachten, wie die Wolken dunkler werden.
Die Entscheidung, die verbleibenden Kilometer nach Hamedan per Anhalter zurückzulegen fällt leicht: Warum einen Tag auf einer wenig attraktiven Strecke gegen den Wind und Regen kämpfen, wenn wir die Zeit für einen Rundgang in einer spannenden Stadt nutzen können? Bald fahren wir mit Tempo 70 weiter und schaffen es in Windeseile in den nächsten Ort. Hier laden wir unsere Velos von der Ladefläche und finden uns schon bald von neugierigen Menschen umringt. «Woher kommt ihr? Wie findet ihr Iran? Wohin wollt ihr? Warum fährt ihr Fahrrad? Können wir ein Foto machen?» Wir bemühen uns, die Fragen ehrlich zu beantworten und auch für Fotos stehen wir gerne bereit. Auch wenn wir immer die gleichen Fragen hören: Die allermeisten Iraner haben nicht das Glück, reisen zu können. Der schwache Pass und der katastrophale Wechselkurs machen solche Träume unmöglich. Wir reisen hier durch ihr Land, geniessen ihre Gastfreundschaft, Architektur, Natur und Infrastruktur. Wir sind der Meinung, dass es das gute Recht jedes Iraners und jeder Iranerin ist, uns anzusprechen und unsere Zeit zu «beanspruchen». Wir können nichts Materielles bieten aber wir können unsere Zeit, Fotos und Erlebnisse teilen, und so dem Tag einen farbigen, exotischen Farbtupf verleihen. Die Selfies mit uns werden regelmässig auf den jeweiligen Instagramprofilen geteilt, Familienmitglieder werden spontan per Videocall angerufen, um die Ausländischen Gäste vorzustellen und viel zu oft werden wir mit Früchten und anderen Naturalien beschenkt.
Ein Gruppenselfie später und um eine Nussmischung und Orangen reicher haben wir bald unsere nächste Mitfahrgelegenheit gefunden. Wir können die drei hochmotivierten Männer nicht davon abbringen, ihre Zeit für uns zu opfern und uns in zwei (!) Fahrzeugen fast bis nach Hamedan zu fahren. Muhammed ruft noch schnell seine Frau an, um sie über die spontane Spritzfahrt zu unterrichten und vierzig Kilometer später stehen wir dankbar vor den Toren der Stadt. «Interlaken!», denken wir, als wir die imposante Bergkulisse um Hamedan bewurndern. «Europa!», staunen wir, als wir das autofreie Stadtzentrum durchqueren. Der Stadtkern ist Kreisförmig angeordnet und gefällt uns sehr gut. Nach erfolgloser Suche nach einem Hostel, wollen wir schon wieder aus der Stadt rausfahren um unser Zelt aufzustellen, als uns die junge Shakiba freudig aus einem Auto zuwinkt. Wir halten an für ein kleines Gespräch und sind bald von interessierten Hamedanern umringt. Schnell wird klar: Shakiba und ihre Eltern nehmen uns mit nach Hause und unser Übernachtungsproblem ist somit gelöst.
Wir werden herzlich empfangen und staunen nicht schlecht, als wir feststellen, dass heute hier ganze vier Generationen zusammenkommen. Hier sprechen alle Familienmitglieder ausser die 95-jährige Urgrossmutter einige Brocken Englisch und wann immer die Verständigung ins Stocken gerät, übersetzt die 10-Jährige Shakiba oder Onkel Martin, der in Australien lebt aber ebenfalls auf Familienbesuch ist. Diese Familie ist ganz anders als die Iraner, die wir bis jetzt angetroffen haben. Dem Wohnzimmer verleihen die reich verzierten Sessel und die noble Tapete eine edle Atmosphäre. Gegessen wird zwar immer noch auf dem Sofra am Boden, jedoch trinkt man hier den Tee im Sitzen! Einen Teil der Familie ist in Teheran zuhause und ist für die Nowruz Feierlichkeiten hier. Shakiba lernt English bei einem privaten Tutor und ihr Mutter arbeitet in einer NGO für Menschenrechte. Im unteren Stock des Hauses befindet sich die Velowerkstatt des munteren Grossvaters, der verschmitzt meint: «In der Schule musste ich etwas English lernen. Jetzt kann ich es endlich gebrauchen!»
Wir lassen uns nicht zum länger Bleiben überreden und packen am nächsten Nachmittag nach einem Bummel in der Stadt unsere sieben Sachen, um irgendwo Ausserhalb zu zelten. Hamedan erscheint uns sogar schön beim Rausfahren: Bald gondeln wir durch immer grüner werdende Aussenquartiere, vorbei an blühenden Mandelbäumen und Schafherden. Am nächsten Morgen staunen wir nicht schlecht, als wir (zum letzten Mal!) in einer Schneelandschaft erwachen. Der nächtliche Schnee schmilzt aber bald und wir kämpfen uns gegen den Wind wärmerem Wetter entgegen.