Gegen den Wind Richtung Istanbul
Gegen den Wind Richtung Istanbul

Gegen den Wind Richtung Istanbul

Wir sind in der Türkei. Ein bisschen wahnsinnig fühlt sich das schon an. Und abenteuerlich und spannend und eindrücklich und…nass und windig. Wir kurven wieder etwas angewärmt und halbwegs trocken aus Ipsala raus und finden uns sehr bald auf einer unbefestigten Strasse wieder. Aha. Die auf der Karte weiss eingezeichneten Strassen scheinen in der Türkei also nicht mehr unbedingt geteert zu sein. Da wir laut Routenplanung schon bald wieder auf eine grössere Strasse treffen sollten, beschliessen wir, die paar Kilometer unbefestigte Strasse trotz dem Wetter zu wagen. Die paar Kilometer entpuppen sich als Härtetest: Aus der Kiesstrasse wird bald eine Matschstrasse und aus dem Matsch bald lehmartiger Schlamm, der sich zwischen den Rädern und den Schutzblechen staut. Wiederholt halten wir an und klauben das klebrige Zeug so gut es geht aus den Zwischenräumen. Bald sind die Räder vollkommen blockiert und ein Weiterkommen unmöglich. Ich stecke absolut fest und kann mein schweres Velo weder stossen noch heben. Es bleibt nur eine Lösung: Alle Taschen abladen und einige hundert Meter weitertragen, wo Louie mein Fahrrad auseinandernimmt und den hartnäckigen Schlamm so gut wie möglich aus den beweglichen Teilen putzt. Mittlerweile hat es wieder zu regnen begonnen, es ist ordentlich kalt, windig und die Situation ist mehr als ungemütlich. Der Stresstest ist vollkommen und wir sind mehr als froh, als wir nach Stunden auf die Hauptstrasse zurückfinden. Unsere Route führt uns auf kleinen Strässchen über Felder und durch kleine Siedlungen. Die Menschen hier haben einen erstaunlich dunklen Hautton, scheinen ausschliesslich in der Landwirtschaft tätig und die Siedlungen wirken sehr einfach. Später finden wir heraus, dass ein Teil der Bevölkerung in dieser Ecke der Türkei ursprünglich aus Bulgarien und Griechenland stammt und der Volksgruppe der Roma angehört. Im kleinen Dorf Türkmen lassen wir uns zum Aufwärmen in ein kleines Lokal winken, essen unser erstes Köftebrot (Hackfleischtätschchen), trinken dazu Ayran (Joghurtdrink) und sammeln erste, authentische Eindrücke.

Die Irrfahrt auf den «weissen» Strassen ist noch nicht zu Ende. Als es allmählich eindunkelt, und unser aktueller Weg wieder mal zu einer Schlammstrasse mutiert, bündeln wie die heutigen Einsichten auf folgende Essenzen:

  1. Schlammige Wege sind ein «no no».
  2. Weiss eingezeichnete Strassen benutzen wir nur, wenn uns Autos entgegenkommen und so die Befahrbarkeit beweisen.
  3. Wir ignorieren ab sofort die Routenvorschlägen unserer Kartenapps, drehen morgen um und nehmen die Hauptstrasse Richtung Gelibolu.

Es wird schnell dunkel und es bleibt uns nichts anderes übrig, als am Wegrand ein feuchtkaltes Camp aufzuschlagen.

Die Fahrt zurück nach Keshan am nächsten Morgen kostet uns ebenfalls mehr Kalorien als erwartet. Zwar fahren wir nun durchgehend auf geteerten Strassen, jedoch bremst uns der starke Gegenwind auf klägliche 9 km/ h herunter. Ausgerüstet mit einer türkischen Simkarte, aufgewärmt von spendierten Çays und wohlgenährt nach einem türkischen «Buffet» brechen wir nach dem Mittag auf, um noch etwas Strecke unter die Räder zu bringen. Das Fahren auf der Schnellstrasse ist erst gewöhnungsbedürftig aber ganz ok, da die grösseren Strassen hier mit breiten Pannenstreifen ausgerüstet sind. Für einmal heisst es Kopfhörer rein, Kopf runter und antreten gegen den starken, eisigen Wind. Ziemlich unterkühlt und ausgepumpt retten wir uns am Abend nach stolzen 89 Kilometern in eine Pansyon. Nebst der erstrebten heissen Dusche kommen wir hier unerwartet in den Genuss eines leckeren türkischen Abend -und Morgenessens.

Am Tag darauf finden wir uns schon bald in Gelibolu und somit auf einer weiteren Autofähre wieder, die uns über das Marmarameer auf die südliche Seite desselben bringt.

Der Gegenwind und die Aussicht auf das schäumende Marmarameer begleiteten uns heute. Kurz bevor es allzu dunkel wird, halten wir einem Herrn am Strassenrand unseren «Magic letter» unter die Nase. «Wir kommen aus der Schweiz und Neuseeland. Wir fahren mit dem Velo durch die Türkei. Wir suchen einen sicheren Platz für unser Zelt», steht da (hoffentlich) geschrieben. Erdogan konsultiert kurz seine Frau Remsie und schon werden wir in den herbstlichen Garten gewinkt. Wir rollen unsere Räder unter einem beeindruckenden Flaschenhalskürbis-Baldachin hindurch hinter das Haus. Unter einem Vordach sind hübsche Teppiche ausgelegt und zusätzliche Sofas bieten eine gemütliche Sitzecke. Wir dürfen unser Zelt auf den Teppichen aufstellen, und schon gibt es Çay Çay Çay! In Mengen. Erdogan bringt uns bald eine ganze Thermoskanne voller Tee. Dazu gibt’s den obligaten Zucker und wir versuchen uns mit Google Translate irgendwie mit ihm zu unterhalten. Erdogan erklärt uns mit ausladenden Gesten die Namen der Früchte, die er bald aus jeder Ecke des Gartens holt. Birnen, Quitten, Trauben, Feigen, Äpfel und Unap. «Wir haben Essen dabei; wir kochen für uns», versuchen wir ihm mitzuteilen. Es dauert nicht lange, und die fröhliche Remsie bringt uns zwei Teller gefüllt mit Brot, Käse, Oliven, Tomaten und Gurken. Auch die 100-jährige Mutter wird uns kurz vorgestellt.

Wir verbringen eine entspannte Nacht hier auf den Teppichen. Die vorbeidonnernden Lastwagen stören uns kaum und wir können die enorme Gastfreundschaft und echte Freude unserer Gastgeber kaum glauben. Am nächsten Morgen haben wir gerade unseren Porridge fertiggekocht, als Erdogan- noch im Schlafanzug- mit einem Teller voller selbstgemachtem Bürek vorbeischaut. Bevor wir uns verabschieden, werden wir ins Haus zum Tee eingeladen und staunen über die einfache Gemütlichkeit hier. Wir zählen vier Sitzecken mit Sofas und Teppichen; alle in verschiedenen Räumen. Die Hauptstube wird von einem Holzofen auf sommerliche Temperaturen aufgeheizt.

Der Abschied zieht sich liebevoll hin. Wir dürfen das Grundstück erst verlassen, nachdem Erdogan Louie eine kleine, lautstarke Tour gegeben und uns mit köstlichen Früchten aus seinem Garten richtiggehend vollgestopft hat. Zum krönenden Abschluss kriegt Louie auch noch die Taschen seiner Regenjacke mit den leckeren Unaps gefüllt. Alles natürlich trotz unserer anhaltenden, dankenden Ablehnung. Viel Gelächter und unglaubliche Gastfreundschaft durften wir hier erleben. Wir werden diese beiden lieben Leute nicht so schnell vergessen!

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert