Wir kommen nicht sehr weit, bevor wir ins nächste Erlebnis rutschen. Trommel- und Trompetenklänge lassen uns von der Strasse abbiegen und in einen Garten spähen. Wie erwartet tummeln sich dort einige festlich herausgeputzte Frauen und Männer. Nach kurdischer Tradition hat sich ein Tanzkreis gebildet. Die Tänzer und Tänzerinnen sind eng beieinander eingehakt, die Schultern wippen im Takt und die Füsse stampfen in einer bestimmten Schrittfolge, so dass sich der Kreis allmählich dreht. In der Mitte stehen die Musikanten mit Trommel und Tröte und geben den Takt an. Es dauert höchstens eine halbe Minute, bis wir von der Strasse weg energisch in den Hof gewinkt werden. Wiederrede Zwecklos. Nach einer weiteren Minute und erfolgloser Wiederrede werden wir beide in den Kreis hineingezogen, links und rechts eingehakt und lachend und etwas verlegen versuchen wir, uns mit den geübten TänzerInnen in Takt mitzubewegen. Glücklicherweise werden die Füsse dieses Mal ganz einfach in kleinen Seitwärtsschritten weitergeschoben. Die kurdischen Kreistänze können schnell sehr anspruchsvoll daherkommen. Vielleicht erinnert Ihr euch an das Video von unserem Bericht aus Istanbul? Spontanes Mitmachen ist für den Laien dann undenkbar.
Irgendwann entschuldige ich mich aus dem Kreis und freue mich an Louies Anblick, wie er von den jungen Männern mit grosser Begeisterung zum Tanzen animiert wird. Ohne Ankündigung marschieren zwei Typen in die Mitte, ziehen Pistolen aus ihren Jackentaschen und feuern in die Luft. Päng päng päng! Für uns absolut undenkbar, hier absolut normal. Zwischen den Ständen im grossen Basar von Urfa fand sich zwischen Schmuck- und Kleiderladen ein Waffenshop, mit einem Arsenal im Angebot, welches in der Schweiz nicht einmal mit Waffenschein legal erhältlich wäre. Waffen sind hier Alltagsgegenstände. Manche Hirten tragen sie zum Schutz der Herden vor Wildtieren, an Festen werden sie zur Schau getragen und in manchen Dörfern «schiessen» die kleinen Jungs mit ihren Plastik- oder Holzwaffen kichernd auf uns. Auch die Militärpräsenz steigt mit jedem Kilometer Richtung Osten an. Wir passieren diverse Checkpoints mit Sandsäcken und bewaffnetem Militär. Wir grüssen, sie grüssen zurück.
Die Hochzeitsgesellschaft ist keine Hochzeitsgesellschaft, sondern es handelt sich bei den Festivitäten um den «Hennatag» kurz vor der eigentlichen Hochzeit. Heute wird die Mitgift übergeben und wir beobachten, wie diverse Haushaltsgegenstände mit einem roten Geschenkband umwickelt auf die Ladefläche eines Anhängers geladen werden. Matratzen, Kissen, Decken, Geschirr, ein Schmuckkästchen und unzählige andere Einrichtungsgegenstände.
Nach unzähligen Selfies mit uns seltsamen Touristen verabschieden wir uns und machen uns auf in eine weite Landschaft von Feldern und Steinmauern. Als es Zeit wird, einen Platz zu finden, ist die Landschaft so offen und die Felder so feucht-erdig, dass es unmöglich ist, einen sinnvollen Ort für das Zelt zu erspähen. In einer kleinen Bauernsiedlung entdecken wir einen Rohbau neben grasigem Grund, der als Übernachtungsort noch am ehesten in Frage kommt. Im Wissen, dass uns sicher jemand sieht und anspricht, kochen wir uns erstmal einen Kaffee und stellen noch kein Zelt auf. Eine weise Entscheidung. «Kalt kalt», meint Mahmut entschieden und lässt es nicht zu, dass wir hier im Zelt übernachten. Wir werden in die warme Stube seines älteren Bruders Hashim gewinkt und bis zu dessen Ankunft erst einmal mit reichlich Çay versorgt. Wir sind in einer kurdischen Grossfamilie gelandet. Wie ich später im Frauenraum erfahre, hat die Frau des Hausherrn sieben Kinder zur Welt gebracht, von denen die jüngsten zwei Töchter noch hier im Haus leben. Sie sind 25 bzw. 22 Jahr alt und heissen Zamzam und Ihlas. Zamzam hat die Schule gerade mal bis zur 5.Klasse besucht, und die nahezu unverständlichen Übersetzungen des Übersetzungsapps deuten auf eine sehr schwache Orthografie hin. Ihre Hände sind schwielig von der harten Arbeit im Haus und auf dem Hof und wir sind uns nicht sicher, ob diese zwei Töchter vielleicht einfach als Haushaltgehilfen unverheiratet in der Familie verweilen. Ihlas spricht mit einer tiefen Raucherstimme, und ihre schlechten Zähne und harten Gesichtszüge lassen sie weit älter erscheinen, als sie ist. Ich verbringe einige Zeit mit den drei Frauen, trotz der schwierigen Kommunikation. Sie schliessen mich sofort ins Herz und sind sehr interessiert. Ich kann die Offenheit dieser Menschen nur bewundern und staune über die total unterschiedlichen Lebensrealitäten, denen wir begegnen. Was sie wohl von uns denken? Aus ihrer Subjektivität heraus ist es unmöglich, sich unsere Welt voller Individualismus und Kopflastigkeit auch nur ansatzweise vorzustellen. Mit dem Fahrrad durch die Gegend fahren. Wer macht so etwas? Und warum? «Wer schaut jetzt nach deiner Mutter?», fragt mich Zamzam. Es klopft an der Tür, der Hausherr ist zurück und Zamzam und Ihlas springen auf, um die angelieferten Einkäufe entgegenzunehmen. Vermutlich verlassen sie den Hof so gut wie nie; sogar Einkaufen ist Männersache hier. Der Ehefrau werden einige Schachten Medikamente abgegeben und wenige Worte werden gewechselt. Ich bin Touristin, Gästin und werde auch im Männerzimmer akzeptiert. Hier läuft die Konversation etwas flüssiger Louie unterhält sich mit Mahmut, dessen Söhne und Hashim mithilfe diverser Smartphones über alles Mögliche. Als Mahmut und Hashim erfahren, dass Louie Maschineningenieur ist, wollen sie wissen, ob er ihnen vielleicht einen Golddetektor bauen könnte. Ein kleiner Scherz, aber bald ist das Gespräch auch hier beim immer schlechter werdenden Lirakurs angelangt. Die Hirarchie im Raum ist sehr klar und sehr eindrücklich: Hashim gibt sich zwar gönnerhaft und locker, doch er gibt den Gesprächsrythmus und die Themen vor. Die Jüngsten im Raum, Mahmuts Söhne sitzen ruhig neben dem Ofen und tauen dafür umso mehr aus, als Hashim den Raum für einige Zeit verlässt. Frage nach Frage wird gestellt. «Can you teach me English?» “ Is Europe jaleous of us (Turkey)?” «Can you find a job for me in Switzerland?” Louie deutet in einfachen Sätzen die Schwierigkeiten mit Visa und Arbeitserlaubnis an und gibt zu bedenken, dass die Menschen in der Türkei viel freundlicher sind als in der Schweiz, wo Fremden präventiv mit Misstrauen begegnet wird. Die Folgerichtige Frage «Why?» lässt sich dann nicht mehr ganz so einfach beantworten.
Nach dem leckeren, einfachen Abendessen gibt es mehr Tee und schliesslich dürfen wir uns in ein eigens hergerichtetes Zimmer zurückziehen.
Nach einem Rundgang auf dem reich belebten Hof und dem obligatorischen Morgenessen reissen wir uns von der herzlichen Gesellschaft los- und werden es noch tagelang bereuen, dass wir die wiederhole Einladung, doch noch ein bisschen länger zu bleiben, ausgeschlagen haben.
Die schnurgerade Kiesstrasse, die wir nun befahren, zieht sich ohne einen einzigen Bogen für eindrückliche 70 Kilometer durch die vulkanische Landschaft. Teilweise wurden die schwarzen Gesteinsbrocken zu Mauern rund um Felder aufgeschichtet, teilweise liegen sie da, wo der Vulkan Karacadag sie vor Ewigkeiten hinkatapultiert hat. Die besondere Landschaft ist zum Zelten denkbar ungeeignet. Der Boden besteht entweder aus Gesteinsbrocken oder klebrige Feldböden oder einer Kombination von beidem. Erstaunlicherweise finden wir trotzdem eine versteckte Stelle auf einem etwas weniger klebrigen Boden und können unser Glück nicht ganz fassen, in solch einer einzigartiger Gegend die Nacht zu verbringen.
Der folgende Tag begrüsst uns mit einem eindrücklichen Farbenspiel der Morgensonne auf den dunklen Steinbrocken führt uns nahe zum vulkanische Übeltäter höchstpersönlich . Der Pass, den es zu überqueren gilt, beeindruckt uns weniger mit seiner Steilheit dafür umso mehr mit der weiterhin baumleeren und unglaublich weiten Landschaft. Es ist Mitte Dezember und wir fahren schwitzend im T-Shirt. Hinauf. Auf der Abfahrt kühlt es markant ab und bis zum Abend sinkt die Temperatur auf unter Null. Das einzige versteckte Plätzchen liegt gleich neben einer Pumpstation für die aufwändige Bewässerung der grossen, topfebenen Felder. «Volltreffer», finden wir und schlafen trotz der Kälte erstaunlich gut. Die Pumpe surrt die ganze Nacht vor sich hin und pumpt und pumpt… bis das Wasser aus dem Feld über den gesamten Vorplatz fliesst und unser Zelt teilweise unter Wasser setzt. Glücklicherweise stellen wir das erst in der ersten Morgensonne fest, können die meisten unserer Habseligkeiten ins Trockene retten und das Zelt gerade noch trocknen, bevor ein zäher Nebel den Rest des Tages einhüllt.
unfassbar abenteuerlich – und diese landschaft!!! diese menschen!!! wie ihr das alles fotografieren könnt!
grandios!
alles gute! hebed sorg!
herzlich, brigitte
Hallo Ihr Lieben, es ist so schön durch euere Blogs mitzureisen. Welch fantastische Landschaften! Lieben Gruß aus Winti Ashutosh
Danke!