Die Fahrt nach Diyarbakir ist glücklicherweise kurz, dafür aber umso feuchter und kälter. Der Nebel ist so dicht, dass wir nur knapp 30 Meter weit sehen können. Kurz vor dem Stadteingang werden wir an einem der auffällig häufiger werdenden Polizeicheckpoints von einem Typen mit Schussweste und grosser Kalaschnikow zur Seite gewinkt. Wir erwarten, dass wieder einmal unsere Pässe abfotografiert werden, doch der Typ stellt sich als Michael vor, spricht recht gut English und fordert uns auf, am Kohlenbecken hinter der schusssicheren Schutzwand unsere tauben Hände aufzuwärmen. Wir plaudern über das Reisen, Snowboarden und das türkische Essen, und werden schliesslich gleich noch zum (Vegi-!) Grill miteingeladen. Was für eine unerwartete Willkommensbegegnung!
Die kurdischen Gebiete- oder eben Kurdistan- werden von offizieller Seite als gefährlich und terroristisch eingestuft. Das berechtig die Regierung offensichtlich, die Kurden pauschal zu verdächtigen, überall Sicherheitskameras aufzustellen, den Verkehr in zahlreichen Checkpoints zu überprüfen, eine sehr hohe Polizeipräsenz zu rechtfertigen, mit Panzerfahrzeugen zu patrouillieren und das stolze Volk in diversen weiteren Bereichen des Lebens subtil zu schikanieren.
Wir haben Kurdistan bisher ganz anders kennengelernt. Die Menschen sind unglaublich warm und gastfreundlich und begegneten uns scheinbar ohne Vorurteile. Wir haben uns ausnahmslos sehr sicher und willkommen gefühlt und es war vielerorts nicht einmal nötig, die Fahrräder abzuschliessen. Der Çay, das Brot, die Mandarinen gingen viel zu oft auf die Rechnung des jeweiligen Verkäufers- Widerstand zwecklos. Das Misstrauen und die Vorurteile innerhalb der Türkei sind traurig- und leider so alt wie die Türkei selbst.
In Diyarbakir kommen wir erstmal bei Ferat und seiner Familie unter. Aus zwei Nächten werden drei und nach einem Abstecher in die antike Stadt Mardin dürfen wir drei weitere Nächte bei Tugba und ihrem Freund Serhat anhängen. Wir müssen das Regenwetter aussitzen, den Beinen eine anständige Pause gönnen und unsere weitere Reiseroute planen. Unser ursprünglicher Plan, uns trotz Winterwetter bis nach Van durchzukämpfen und von dort mit Bussen nach Georgien weiterzureisen, kommt ins Wanken, nachdem uns Serhat Bilder von eingefrorenen Füchsen aus dieser Region zeigt. Warum uns das von unserem Plan abbringt? Die Füchse sind nicht schlafend erfroren, sondern mitten in der Bewegung! Wir planen also um und bald steht fest, dass wir von Diyarbakir direkt nach Tunceli hochfahren und von dort dann über die folgenden drei Pässe über 2000 Meter Höhe den Bus nehmen.
Nach der unerwartet langen Pause freuen wir uns unglaublich, wieder die Fahrräder zu bepacken und wieder loszustrampeln. Der Abschied von Tugba fällt dagegen schwer, sie ist uns schon sehr ans Herz gewachsen.
Die Sonne scheint, die Temperatur ist erträglich und bald lassen wir die Vororte der Grossstadt hinter uns. Die unschöne Hauptstrasse wird allmählich enger und wir sind mal wieder auf dem Weg in die Berge. Eine Herausforderung beim Fahren in den Wintermonaten sind die sehr kurzen Tage. Spätesten um vier wird es schon ordentlich kalt und um fünf verabschiedet sich das Tageslicht bereits. In der Nacht ist es jetzt immer kalt, je nach Ort auch feucht und wir (ich!) freuen uns, wenn wir etwas geschützte Zeltplätze finden. Wir finden. In einem Dorf mit dem schicken Namen «Maden» ziehen wir kurzerhand in ein leerstehendes Glashaus auf dem Spielplatz ein. Was das Häuschen für einen Zweck erfüllt ist uns unklar, aber das Zelt und unser Gepäck hat bestens drin Platz. Obwohl wir und an einem sehr öffentlichen Ort befinden, bleiben wir in der Nacht unentdeckt.
Der nächste Morgen begrüsst uns erst mit Regen, entscheidet sich dann aber um und wir fahren im Flockengestöber auf kurvigen Wegen durch die attraktive Hügel- und Berglandschaft. Trotz des etwas rauen Wetters geniessen wir die Fahrt, jedoch kommen wir nur langsam vorwärts. Immer wieder kommen wir an kleinen Polizeiposten vorbei, allesamt bemannt und bewaffnet und… beheizt! Die dritte Einladung nehmen wir schlotternd an und finden uns bald neben einem bullernden Ofen im erhöhten Betonhäuschen wieder. Zwei Türen, rundherum Fenster, Man reicht uns Tee und lässt uns auftauen. Sie seien für die Sicherheit zuständig, meint der jüngste Soldat der Runde. Aber nein, passiert sei hier noch nie was. Aber es gebe Terrorismus. PKK! Die Kalaschnikows stehen in einer Ecke und hängen an den Kleiderhaken. Die Soldaten schnippeln Petersilie, Tomaten und Peperoni. «Wir rauchen, kochen, spielen mit dem Natel und machen Freundschaftskämpfe», meint der junge Soldat auf unsere Frage, wie sie sich hier im Niemandsland die Zeit vertreiben. Selbstverständlich sind wir heute zum Mittagssnack gleich miteingeladen. Gekocht wird auf dem Ofen in einer grossen Eisenpfanne. Ilyas vermengt die vorbereiteten Zutaten fachmännisch, reduziert die Menge und fügt dann einige Eier zu. Ein bisschen Salz noch und fertig ist die leckere Mahlzeit.
Etwas Überwindung kostet es schon, die warme Festung wieder zu verlassen. Doch frisch gestärkt und aufgewärmt nehmen wir die nächsten Steigungen und klirrenden Abfahrten in Angriff. Auch heute steht eine Frostnacht an. Wir hoffen auf eine leerstehende Hütte, um etwas vor der Kälte geschützt zu sein. Weit und breit gibt es aber nichts als Felsen, steile Berghänge und eisige Bäche. Das könnte eine kalte Nacht werden! Bevor wir uns einen weiteren steilen Abschnitt weiter in die Höhe kämpfen, zweigen wir auf eine Nebenstrasse ab, aus der uns gerade diverse Minibusse mit Arbeitern entgegenrumpeln. Wir vermuten eine weitere Mine und hoffen auf unsere leerstehende Hütte. Wir fahren um eine weitere Biegung und erspähen sofort ein geeignetes Plätzchen. Jedoch liegt das kleine blaue Haus bereits auf dem Minengelände und somit hinter der gut bewachten Barriere. Wir haben wenig zu verlieren und so wagen wir den Versuch. Die fragenden Gesichtsauszüge der stattlichen Männer in der schwarzen Uniform weichen schnell freundlichem Grinsen und wir werden kurzerhand auf das Gelände gewinkt. Ein jüngerer wird damit beauftragt, das blaue Häuschen auszufegen und den alten Ofen darin einzufeuern, während wir in das erhöhte Wachhäuschen eingeladen werden. Ihr könnte es euch denken: Wiederrede zwecklos!
Irgendwann zwischen Tee und Abendessen wird entschieden, dass wir nicht im blauen Haus im Zelt schlafen werden- çok souk (zu kalt) – sondern im Wachhäuschen mit Heizstrahler.
Die Aufsichtsleute erzählen uns, dass die Mine zur Firma Eti Krom gehört, der Stollen rund vier Kilometer in den Berg hineinführt, 24h im Schichtbetrieb gearbeitet wird und rund 80 Lastwagen pro Tag das Gelände vollbeladen verlassen. Irgendwann überlassen die Wärter uns dann tatsächlich das Häuschen für die Nacht, wir schieben die Bänke zusammen, bewundern durch die Scheiben das Schneegestöber und sind sehr zufrieden über unser heutiges Zuhause.
Am nächsten Tag erreichen wir unser Etappenziel Tunceli (Demir). Im symphytischen kurdischen Städtchen verbringen wir zwei kalte aber sonnige Tage. Wir kochen unser Weihnachtsessen im edlen Hotelzimmer, erkunden gepäckfrei die wunderbare Umgebung und fühlen uns dank dem Schneebergenpanorama ein bisschen wie in den Skiferien. Am dritten Tag quetschen wir sämtliche Ausrüstung in den Bauch eines grossen Reisebusses, der uns über drei steile, verschneite Pässe nach Trabzon an der Schwarzmeerküste bringt.
Während drei Tagen heisst es nun bei perfektem Wetter «Chopf abe und strample» um die knapp 200 Kilometer auf der lauten Fernstrasse hinter uns zu bringen. Hier an der Küste ist der Platz eng, die Wohnblöcke sind hoch und hässlich und die Menschen auf den ersten Blick etwas reservierter. Wir sind unglaublich froh, dass wir die Türkei während neun Wochen in einer ausladenden Zickzacklinie befahren haben und konnten so wunderbar eintauchen in all die verschiedenen Regionen, Kulturen und Familiengeschichten.
In Hopa bleiben wir einen Tag hängen, da wir für die Einreise nach Georgien doch noch einen PCR- Test benötigen. Bei einem kurzen Spaziergang weg vom Verkehrschaos der Ost-West Achse stellen wir fest: Auch die Gegend hier wird schnell wild-romantisch mit steilen Hügeln, Teeplantagen, Obstbäumen und klaren Gebirgsbächen.
Doch wir fühlen uns jetzt bereit für das nächste Land: Georgien, wir kommen!