Der Wind bläst uns unbarmherzig entgegen doch glücklicherweise mischen sich die Schneeflocken mit einigen Sonnenstrahlen und so schaffen wir auch diesen winterlichen Fahrtag in die erste iranische Grossstadt Täbriz.
Der geschäftige Täbriz bleibt kalt aber gefällt uns sehr. Wir kommen nie weit, ohne auf unsere Herkunft ausgefragt und im Iran willkommen geheissen zu werden. Wir streifen durch den Bazaar, durch ein Museum und machen dabei Unmengen schöne Bekanntschaften. Ein Aufseher eines öffentlichen WC`s drückt uns unerwartet je ein Pepsi und unser erstes Yeralma-Wrap in die Hand und erwartet dabei nicht einmal ein Gespräch als Gegenleistung. Auf dem Bazaar wird uns Kaffee spendiert, die gekaufte Fruchtmenge ungefragt verdoppelt und wildfremde Menschen bieten uns ihre Hilfe an, sollten wir im Iran irgendwelchen Problemen begegnen. Wir haben beschlossen, einige hundert Kilometer mit einem Bus abzukürzen und so verbringen wir einige verwirrende Stunden im Busbahnhof von Täbriz. Nach diversen mühseligen Diskusionen mit den Busmenschen geben wir unser zuvor gekauftes Ticket entnervt zurück. Der Velotransport kostet offenbar einfach so viel, wie der Fahrer dafür verlangen möchte und der heutige Fahrer hat sich auf eine astronomische Summe festgelegt. Unser Traum vom früheren Winterende scheint verloren, also Louie plötzlich mit Neuigkeiten herbeieilt: Ein anderer Bus ist bereit, uns für schlappe zwei Millionen (8 CHF) bis nach Zanjan mitzunehmen. Der Bus fährt in wenigen Minuten ab und so beobachten wir wenig später durch das Busfenster, wie die sich die Vororte von Täbriz in weite Hügellandschaft verwandeln. Wir sind froh, diese 300 Kilometer im Bus hinter uns zu bringen und nach den zehrenden Fahrtagen etwas Distanz zu vernichten. Das Wetter der folgenden Tage bestätigt uns in unserer Entscheidung: Täbriz versinkt im Schnee und sogar in Zanjan wachen wir am Morgen in einem schneebedekten Zelt auf. Doch die kalten Tage scheinen langsam aber sicher gezählt.
Der nächste Fahrtag bringt uns endlich weg von der Hauptstrasse und führt uns über sanfte Steigungen auf über 2000 Meter über Meer. Der Gegenwind bleibt uns treu aber die vorbeifahrenden Iraner hupen und winken, geben uns das Daumen-Hoch-Zeichen, laden uns zu Tee, Mittagessen und Übernachtung ein und lassen uns nicht an der überwältigenden Gastfreundschaft zweifeln. Wir lehnen sämtliche Einladungen diszipliniert ab, da wir heute etwas Strecke machen wollen. Ali und Javad bleiben aber hartnäckig und da das timing stimmt, lassen wir uns von ihnen in ihr kleines Dorf Shour Ab einladen. Die beiden warten ganze 40 Minuten an der Strassenverzweigung, bis wir es über den kleinen Pass geschafft haben. Das Dorf ist uns auf den ersten Blick symphytisch und die Familie erst recht. Javad spricht einige Brocken englisch, was die Kommunikation ungemein erleichtert. Im Haushalt leben Javads Eltern, seine Frau Vereshte und ihre süsse Tochter Helma. Später beim Tee lernen wir noch drei weitere Mitbewohner kennen: Drei blau, pink und grün eingefärbte Kücken, die ab und zu durch das Wohnzimmer flitzen und zur allgemeinen Heiterkeit beitragen. «Rohat!», werden wir immer wieder aufgefordert, wenn wir ächzend unsere Beine aus dem Schneidersitz entfalten. «Relax!», doppelt Javad lachend nach und bedeutet uns, unsere Beine bequem auszustrecken.
Es ist früher Abend und es wird ein leckeres Gericht mit Hühnchen aufgetischt. Bald sind wir satt und müde und erfahren erstaunt, dass das nicht etwa das Abendessen war, sondern ein verspätetes Mittagessen! «We invited you for lunch», erklärt Javad. Offenbar war diese Einladung keineswegs an eine Zeit gebunden. So machen wir ein Nickerchen im Nebenzimmer und treffen uns nach Zehn Uhr wieder in der Stube zum richtigen Abendessen. Keineswegs spät für die Iraner, wie wir bald lernen. Hier bleibt man lang wach und bleibt dafür am Morgen etwas länger liegen.
Am nächsten Tag ist das Wetter prächtig. Allerdings werden die heiss ersehnten Sonnenstrahlen von kräftigen Böen ergänzt. Mit bis zu 80 km/h braust der Wind heute übers Land. Javad meint schon am Morgen früh immer wieder «stay!». Wir schieben unsere Entscheidung erst einmal noch etwas vor uns her. Wir haben grosse Lust aufs Velofahren und mögen nicht schon wieder das Wetter aussitzen. Ein Spaziergang auf einen nahen Hügel überzeugt uns aber dann doch, den Tag in Shour Ab zu verbringen. Die Familie ist entspannt und herzlich, der Wind ist gegen uns und bald erfahren wir, dass schon heute Abend das Nouwruz, das persische Neujahrsfest gefeiert wird. Diese Chance, das besondere Fest in einer Familie zu verbringen, dürfen wir uns nicht entgehen lassen. Gegen Abend werden frische Kleider angezogen, weitere Familienmitglieder trudeln ein und eine zusätzliche Sofra wird mit den typischen Neujahrsgegenständen geschmückt: In verschiedenen Schalen werden gekeimte Linsen und Weizen, Äpfel, Süssigkeiten, geröstete Sonnenblumenkerne und Kekse platziert. Der Koran wird ebenfalls dazugelegt und Javad, seine Mutter und Vereshte lesen abwechselnd darin. Im Fernseher läuft ein Countdown, der das neue Jahr um 20.20 Uhr als begonnen erklärt. Wir wünschen uns alle ein gutes neues Jahr «Eid-e Shoma Mobarak!», knacken die Sonnenblumenkerne mit den Zähnen auf, probieren uns durch die buttrigen Kekse und fühlen uns ehrlich geehrt, diese Tradition auf so eine entspannte Art und Weise miterleben zu dürfen.
Der Abschied am nächsten Morgen fällt schwer und wird von allen Seiten hinausgezögert. Javad ändert seine Taktik von «stay» zu «come again» und als wir schliesslich unsere bepackten Räder aus dem Hof rollen, winken uns bestimmt zwanzig Leute zum Abschied. Der Nachbarsjunge Mächtig hat uns zum Abschied eine Packung Safran überreicht, die wir ehrfürchtig annehmen. Unglaublicherweise wollen uns alle noch Früchte, Nüsse, frittiertes Brot und weitere Leckereien mitgeben. Unser improvisiertes Gastgeschenkt bestehend aus einigen Orangen und gekauften Keksen ist definitiv lächerlich im Vergleich. Nur wenige der Gaben können wir erfolgreich zurückweisen. Viel zu reich beschenkt rollen wir schliesslich aus unserem neuen Lieblingsdorf. Ali holt uns nach einigen Kilometern samt seiner Mutter auf dem Beifahrersitz ein und möchte uns gerne zum Mittagessen einladen. Dieses Mal bleiben wir hart und lehnen dankend ab. Die Durchquerung der nächsten Stadt gestaltet sich ebenfalls als Willensprobe. Nicht weniger als vier seriöse Einladungen zum Mittagessen müssen wir höflich ausschlagen, wir posieren für Fotos, kriegen leckere Kekse in die Hand gedrückt und wünschen unzählige Male «Eid-e Shoma Mobarak!». Mit dem Neujahrsabend hat die zweiwöchige Ferienzeit begonnen und viele Familien reisen jetzt kreuz und quer durch das Land. Wir strampeln durch Regenbogenhügel und ergrünende Felder, bis wir 80 Kilometer später unter einigen Mandelbäumen unser Zelt aufschlagen. Unser Zelt steht genau für zehn Minuten an seinem lauschigen Plätzchen, als ein freundliches Ehepaar vorfährt und uns ganz selbstverständlich ihr Gartenhäuschen in der Nähe als Übernachtungsort anbietet. Das Angebot ist so verlockend, dass wir annehmen; auch die dunklen Wolken am Himmel drängen uns dazu. Ein weiterer Glücksfall, wie sich noch herausstellen wird. Es ist noch immer kalt und der einfache Raum lässt sich mit einer kriminellen Stichflamme aus einem Glaszylinder etwas heizen. Bereits sind erste Tropfen zu spüren und wir sind froh, nicht im Zelt kochen zu müssen. Auch hier werden aus einer geplanten Nacht zwei, da uns der kommende Morgen mit kaltem Wind und Regen begrüsst. Wir nutzen den Morgen für einen Besuch der riesigen Tropfsteinhöhle Kathaleh Khor und beschliessen dann mit einiger Schwierigkeit, erneut das unfreundliche Wetter auszusitzen. Wir holen den Schlüssel zum Gartenhäuschen also wieder aus seinem Versteck und verbringen einen weiteren gemütlichen Abend im Trockenen. Gerade als wir die nächsten Fahrwochen fertig skizziert haben und uns bettfertig machen wollen, hören wir Stimmen und eine wenige Minuten später finden wir uns in einer völlig unerwarteten Szene wieder: Das Gartenhäusschen ist gefüllt mit dem Besitzer, dessen singendem Freund, der Schwester samt Mann, einem Jungen und uns und diverse Snacks werden vor uns im Gasflammenlicht ausgebreitet. Es wird gescherzt und gelacht, gesungen und fotografiert und verwundert schauen wir auf die Uhr und stellen fest, dass es bereits nach elf Uhr ist. Die Partyfamilie verschwindet so schnell und freundlich, wie sie gekommen ist und wir sitzen verblüfft vor einem Berg Orangen, Äpfeln, Nüsse, neuen Socken und weiteren Geschenken, die sie uns hiergelassen haben. Wie ein kleiner Tsunami fühlt sich dieser Besuch an. Total surreal, kaum zu fassen, wohl nur im Iran möglich und wir mittendrin.