Frühstück gibt’s mit wunderschöner Aussicht auf das ruhige Meer und die vorgelagerten Inseln. Da wir beide Richtung Split unterwegs sind, liegt es auf der Hand, dass wir heute zusammen losziehen. Um der Hauptstrasse zu entkommen, schwitzen wir uns bald kleinere Strässchen hoch und werden mit wunderbarer Aussicht auf das glizernde Meer belohnt. Es fährt sich gut heute, es ist heiss und nach einer ausgedehnten Mittagssiesta, radeln wir erst gegen Abend in Split ein. Split liegt auf einer Halbinsel und wirkt auf mich bei der Anfahrt wie eine blechschluckende Betonfestung. Die Strassen werden breiter, der Verkehr dichter und die Häuserschluchten tiefer. Lichtsignale zwingen uns zu mühsamem stop- and go mit den vollbeladenen Velos. Kaum vorstellbar, dass sich irgendwo in diesem Ort eine Unesco Weltkulturerbe-Altstadt verstecken soll.
Wir finden die besuchertriefende Altstadt dann tatsächlich noch. Ganz hübsch und alt und geschichtsträchtig, aber nach meinen ersten Eindrücken habe ich Split unfairerweise bereits in eine gewisse Schublade versorgt. Nach einer Zwecknacht im Hostel schnappe ich mir am nächsten Mittag eine Fähre nach Hvar. Hvar ist eine der 1300 (!!) kroatischen Inseln; knapp zwei Stunden vom Festland entfernt und bietet eine gute Möglichkeit, einen Teil der verkehrsintnsiven Küste zu umfahren. Sie liegt wie eine lange Zunge parallel zur Makarska-Küste und ist glücklicherweise von beiden Seiten mit Fährschiffen erreichbar.
Die Welt scheint ein bisschen anders auf Hvar. Immer noch touristisch, aber viel viel entspannter als die Küste. Die Luft riecht nach Lavendel, Pinien, Feigen und reifen Trauben, unzählige Buchten laden mit ihrem kristallklaren Wasser zum Baden ein. Die wenigen Strassen schlängeln sich zwischen den Olivenhainen und Reben von Dorf zu Dorf. Die grösseren Ortschaften liegen selbstverständlich alle am Wasser und laden luxuriöse Segelschiffe zum Verweilen ein.
Ich liege in meiner neu angeschafften Hängematte, lese, wasche meine Kleider, erkunde die Insel und springe ab und zu ins Wasser. Pausentage.
Die dritte Nacht auf der Insel verbringe ich auf einem Felsen in der Nähe von Marians Sommerzuhause. Der Lebenskünstler, der von sich selber sagt: «I am inside buddist, outside anarchist» verbringt die warmen Sommermonate in einem billigen Supermarktzelt gleich am Meer. Etwas blickgeschützt dank einer Steinmauer lässt er hier die Tage verstreichen, scheint jeden zu kennen, dreht sich in seiner Hängematte sitzend Joint nach Joint, reisst Sprüche, lacht schallend und nimmt sich und das Leben ganz allgemein nicht allzu ernst.
Als ich mein beladenes Velo gegen Abend anschiebe, stolpert er und ein schon gut betrunkener Kollege gerade Richtung irgendeine Party in der nächsten Bucht. Ich koche mir Abendessen (versalzene Teigwaren; Meerwasser muss verdünnt werden!) und richte mich dann in der Dunkelheit irgendwann zum Schlafen ein.
Es dauert nicht lange, da stolpert die Partygemeinschaft in ihr Gebüsch zurück und schon fuchtelt Marian mit einer Taschenlampe herum und ich höre ihn rufen «Simone! Come here, we have a little party!»
Ok. Die kleine Gesellschaft klingt gut angetrunken aber ist bestimmt freundlich, also krabble ich wieder aus meinen Decken und geselle mich zu der lustigen Gruppe. Ich kriege einen «domestic» Schnapps und bald auch einen Joint in die Hand gedrückt und werde sofort in die trunkfröhliche Runde aufgenommen. Partymitglieder sind Marian als Gastgeber, Thoma und Druce, zwei langjährig Freunde, Rieka, ursprünglich von Montenegro jetzt aber in Deutschland zuhause und Julia, eine junge Mutter von Jelsa und ich; die Schweizerin mit dem Fahrrad.
Während Thoma in etwas gebrochenem English schmutzige Witze zum Besten gibt, erklärt mir Druce, dass man am besten viel trinken kann, wenn man immerzu ein bisschen isst, und so beginnt er auf einer wackeligen Tischkonstruktion auf einem karierten Abtrocknungstuch Tomaten, Speck und Brot aufzuschneiden, stellt den Salzstreuer daneben und alle drängen mich, doch bitte von dem «domestic» Essen zu nehmen. «Domestic» ist das Allerbeste. Aber Druce meint irgendwann trocken: «We say domestic, but it`s bullshit. It is imported from who knows where”. Alle brechen in schallendes Gelächter aus. Schliesslich kommt das Gespräch zum betrunkenen Kollegen. Offenbar schläft er bereits irgendwo im Gebüsch seinen Rausch aus. Im Rausch hat er sich wohl irgendeine kleine Verletzung eingefangen, die die Freunde augenzwinkernd so erklären: «You know, he fell from a stawberry tree!»
Zwischen den Sprüchen und Scherzen erzählen mir die Freunde auch ernstere Dinge. Thoma mit der Lichterkette auf dem Kopf hat offenbar Herzprobleme. Der Arzt hat ihm ein sogenanntes Sportlerherz diagnostiziert. Das Herz funktioniert nur unter starker Belastung wie es soll; eine Spätfolge von 1.5 Jahren Einsatz als Soldat im Krieg. Jeden Tag musste er da einen 45 kg Rucksack herumtragen.
Da ist es wieder. Der Krieg. Es gibt ein Leben davor und ein Leben danach. Welche Männer, die ich auf meiner Reise antreffe, haben wohl als Soldaten gedient? Haben sie schlimme Dinge getan? An was haben sie geglaubt? Von welchen Emotionen und Befehlen wurden sie getrieben? Um welchen Preis haben sie überlebt? Eine Reise durch Exjugoslavien ist auch Geschichtspuzzle zusammensetzen. Jeder erwähnt früher oder später den Krieg. Jeder hat seinen Blickwinkel und seine Ansicht. Je mehr ich über diesen Krieg lese und höre, desto komplexer scheint es. Auch heute, fast 30 Jahre später ist er präsent. Wie ein unruhiger Albtraum schwebt er über diesen Ländern und lebt im Nicht-Vergeben und in den schmerzhaften Erinnerungen weiter.
«I like you a lot», ruft Thoma als ich erwähne, dass ich meinen Job in der Schweiz für diese Reise gekündigt habe. In dieser Gesellschaft wirkt der Gedanke an ein geregeltes Leben tatsächlich absurd und wenig erstrebenswert. Ein Gefühl, das mich auch noch die nächsten Tage begleiten wird. Zugunsten von was für einer Sicherheit investieren wir unsere kostbare Lebenszeit in klar getrennte Büro- und Freizeit? Im Moment habe weiss ich das nicht so genau.
Druce erklärt mir, dass er mal zwei Jahre in Amsterdam, dann sieben Jahre in Frankreich und auch an anderen Orten in Europa gelebt hat. Er spricht bosnisch kroatisch (eigentlich dasselbe, wenn ich das richtig verstehe), italienisch, englisch und französisch. Nahe Verwandte hat er in der Schweiz und in Deutschland. Er ist nicht der erste, der mir solch einen Lebenslauf schildert.
Mir scheint fast, die Menschen aus dem Balkan sind die wahren Europäer.