Am Sonntagnachmittag wird unsere spontane Sarajevo-WG und ein Sorbus und ein Velo erweitert. Sorbus ist aus der Schweiz eingeflogen und wird mit mir die nächsten zehn Tage durch Bosnien und Montenegro nach Shkoder in Albanien radeln. Thierry, der Warmshower-Host und Via Dinarica-Profi, den ich vor meiner Ankunft in Sarajevo getroffen habe, hat mir einige goldene Tipps gegeben, wie wir diesen nächsten Streckenabschnitt legen könnten. Wobei hier «einige Tipps» stark untertrieben ist: Wir sind zusammen vor den Computer gesessen und jeden Streckenabschnitt durchgegangen. So steht bei Sorbus Ankunft die Route bereits und wir erwarten rund 8500 vielversprechende Höhenmeter und etwas über 550 km Strecke. Einige besonders extravagante Schleifen werden wir aus Zeitgründen mit weniger spektakulären Abkürzungen ersetzten, aber im Grossen und Ganzen folgen wir den wertvollen Vorschlägen des Meisters.
Am Montagvormittag navigieren wir uns aus Sarajevo raus. Eine Stadt, die ich gerne erneut besuchen möchte! Sobald wir den Fluss Miljacka überquert haben, führt uns die Strasse sehr kurvenarm steil nach oben. Literweise Schweiss später finden wir uns in ziemlich ländlicher Umgebung wieder und geniessen die eindrückliche Aussicht über die Stadt. Häuser werden bald von Heuhaufen, Apfelbäumen, kläffenden Hunden und endlosen Hügelzügen ersetzt. Es fährt sich gut und bevor wir am Abend einen nächsten Pass erfahren, suchen wir uns ein Übernachtungsplätzchen. Nahe einem schmucken Dorf erspähen wir einen geeigneten Ort am Fluss. Ich wate durch das seichte Wasser, um eine Bäurin um Erlaubnis zu fragen. Schnell ist ihr Mann herbeigerufen und dieser meint: «No, no! My house! Security!» Er bestellt seine Tochter herbei, drückt uns je eine saftige Birne in die Hand und bald werden wir in den schmucken Garten geführt. Eine weitere Tochter taucht samt ihrem erstaunlicherweise perfekt Deutsch sprechenden Mann Admir auf! Seit drei Jahren lebt und arbeitet er nahe München. Vor wenigen Tagen hat er seine Nina geheiratet und die beiden zeigen uns gerne ihre Hochzeitsfotos. «Hier gehen wir auf das Amt, dann in die Moschee und dann gibt es Party!», meint Admir, als ich ihn über den Ablauf einer Hochzeit hier ausfrage. Für das kleine Ritual in der Moschee zieht sich die Braut kurz einen Schleier über das Haar und ansonsten werden schicke Glitzerkleider und Highheels ausgeführt.
Auf meine Nachfragen erklärt mir Admir, dass wir tatsächlich durch sogenanntes RS-Gebiet gefahren sind heute. RS bezeichnet die «Republica Srbska» und damit die von bosnischen Serben bewohnten Gebiete in Bosnien Herzogowina. Die RS Gebiete sind das Resultat der ethnischen Säuberungen währen dem Bosnienkrieg, bei dem nicht-serbische Einwohner vertrieben oder ermordet wurden. Admir bleibt bemerkenswert diplomatisch, als er bemerkt, dass er die Serben in Bosnien als Menschen respektiere und keine Probleme mit ihnen habe, aber sich schon wundere, warum sie nach all dem Morden diese Gebiete zugesprochen bekommen haben.
Die Familie ist die Herzlichkeit selbst. Abendessen kochen dürfen wir nicht und so sitzen wir bald in der geheizten Stube gemeinsam mit den Eltern, den beiden Töchtern, einer Freundin und dem neuen Schwiegersohn und geniessen Lammfleisch von der Abschiedsparty am Vorabend, frische Eier, selbergemachten Käse und Brot. Die Eltern sind praktisch Selbstversorger und gingen zu Gunsten ihrer Kühe und Schafe und in Frühpension. Der starke und liebevolle Zusammenhalt ist beeindruckend. Ebenso die Ordnung und liebevollen Details rund um den Hof.
Am nächsten Morgen nehmen wir den Pass in Angriff. Wunderschön aber kein Ende ist in Sicht. Nach jedem Plateau folgt ein weiterer Anstieg und erst nach dem Mittag erreichen wir die Passhöhe. Die Abfahrt ist bombastisch (schnell) und bringt uns in die Stadt Gorazde. Gestärkt mit einem Kaffee folgen wir der Drina durch ein enges Tal Richtung Grenze nach Montenegro. Das Talseite ist so steil und überwachsen, dass wir keine Möglichkeit zum Campen finden. Für nur 10 Konvertible Mark (ca. 5 Fr.) finden wir auf einem schnuckeligen Camping unser Zuhause für diese letzte Nacht in Bosnien.
Das Tal hin zur Grenze ist erstaunlich lang und die Strasse erstaunlich holprig. Nachdem wir unzählige Rafting-Camps hinter uns gelassen haben, mündet die Drina schliesslich in die Tara und wir überqueren die Grenze nach Montenegro. Thierrys Route lässt uns nicht im Stich; unmittelbar nach dem Grenzübergang kämpfen wir uns eine enge, einsame und stellenweise unglaublich steile Strasse entlang der Tara hinauf. Nach den ersten paar hundert Höhenmeter werden wir von Rishi in seinen Garten gewinkt. Was mit dem Angebot für Trinkwasser beginnt, geht mit der Degustation eines 15-jährigen Rakias weiter, wird bald begleitet von Kaffee und Keksen und abgerundet von einem give-away Sack voller Birnen, Äpfel und Pflaumen direkt von den Obstbäumen. Rishi ist Regisseur in Pristina und leitet dort auch ein Theater. Seine Frau Dhana ist Ex-Basketballspielerin. Die beiden sind gerade damit beschäftigt, sämtliche Gegenstände aus dem alten Familienhaus nach draussen zu schaffen und zu begutachten. So sieht das Grundstück aus wie ein bunter Flohmarkt und neben zwei grossen Rakiaflaschen «gebraut von einem Onkel, der bereits vor sieben Jahren verstorben ist», kam da auch ein kleiner Siebenschläfer zum Vorschein, den die beiden liebevoll in eine Kiste mit Holzspänen gebettet haben. Gestärkt mit Rakia reissen wir uns los und erklimmen die letzten saftigen Höhenmeter durch einen wilden Bergwald auf die Tara Hochebene hinauf. Hier finden wir den perfekten Schlafplatz mit Sicht auf die Bergflanken des Durmitor Nationalparks. Yes!!!