Nur vierzig Kilometer von Gaziantep entfernt, verläuft die Grenze zu Syrien. Schon seit Marash sind viele Geschäfte arabisch beschriftet und wir hören neben Türkisch nun auch immer häufiger arabische und kurdische Gesprächsfetzen. Wir sind nun wieder auf moderaten 500 Höhenmetern und die Temperaturen sind dementsprechend wärmer. Unser Plan scheint aufzugehen! Plötzlich tragen die Bäume wieder gelbes Herbstlaub und die Jahreszeit scheint etwas zurückgedreht. Wir sind im Pistache-Land. «Antep Fistik» lautet der türkische Begriff dafür. Antep ist die Kurzform von Gaziantep und wirklich- die Hügel und Felder sind hier nebst einzelnen Olivenbäumen vor allem mit den kleinen Bäumchen bepflanzt. Einen weiteren Tag verbringen wir auf dem breiten Pannenstreifen der Fernstrasse und gegen Abend erreichen wir den sagenumwobenen Fluss Euphrat. Wir sind jetzt an der Grenze des Zweistromlandes zwischen Euphrat und Tigris. Das fruchtbare Gebiet von Mesopotamien erstreckt sich von der Levante am Mittelmeer bis ins heutige Syrien und den Irak. Hier wurden vor mehr als 10`000 Jahren die ersten Menschen sesshaft und es entwickelten sich neue Kulturtechniken und Gesellschaftsformen.
Wir steuern gerade ein grünes Plätzchen neben dem Städtchen an, als ein Auto neben uns anhält und das Fenster heruntergerollt wird. Wild gestikulierend mit ein paar wenigen Brocken Englisch gibt uns Siat zu verstehen, dass unsere Suche per sofort beendet ist und wir bei ihm und seinem Baby übernachten werden. Wiederrede unmöglich. So folgen wir also dem Auto durch die Strässchen der Siedlung, registrieren, dass man Siat in der Nachbarschaft offenbar kennt und sitzen schon bald in einer riesigen Stube mit riesigen Sofas und nicht nur einem Baby sondern einer Grossfamilie mit fünf Kindern! Die Eltern Siat und Ahi sind mit den ältesten Kindern Muhammed und Mustafa vor acht Jahren aus Aleppo in Syrien hierhergekommen. Ahmed, Aya und Mahmut wurden im Exil geboren. Im Fernseher erschreckt ein als Busch Verkleideter Passanten, während der fünfjährige Mahmut seine Geschwister und Eltern auf Trab hält. Auf die Frage nach meinem Alter antworte ich meist mit geschummelten «30». Ahi, die Mutter, verrät uns ihr Alter: 34! Ich kann es kaum glauben. Ahi ist jünger als ich und hat bereits fünf Kinder in die Welt gesetzt, ist einem Krieg entkommen und organisiert hier ihre Grossfamilie. Bald ist es Zeit für das Abendessen und die Kinder helfen fleissig mit, das Essen aufzutragen. Ein grosses Tischtuch wird auf dem Boden ausgebreitet und unzählige Schälchen und Schalen drauf platziert. Siat reicht uns Fladenbrot und wir tauchen ein in die Aromen von Syrien. Was für ein Essen! Frittierter Fisch, gegrillte Peperoni, Hühnchen-Kartoffel Suppe, Salat, frische Pfefferminze, Zitrone und Chili. Nach dem Essen sitzen wir alle in der grossen Stube zusammen. Der lebendige Busch im Fernseher hüpft weiterhin Passanten an und wir unterhalten uns mit Hilfe der Kinder, die alle Türkisch lesen und schreiben können mit den Eltern. Irgendwann kommen weitere Verwandte mit Gitarre vorbei- Louie soll bitte etwas vorspielen- ich werde in ein goldenes Festtagsgewand verpackt und zur kurdischen Partymusik werden die Oberkörper geschüttelt. Ganz nebenbei entdeckt Siat die Löcher in Louies Socken; trägt einem Sohn kurzerhand auf neue zu bringen, überredet Louie gestenreich, diese anzuziehen, schnappt sich die kaputten Exemplare und stopft diese kurzerhand in den Ofen. Keine Wiederrede erlaubt und wir lachen Tränen über die Szene.
Der Abend ist trotz des ganzen Trubels erstaunlich entspannt für uns und das obligate Morgenessen am nächsten Tag sprengt erneut alle Hoffnungen: Zu den klassischen Zutaten wie Joghurt, Oliven, Tomaten, Gurken und Schafskäse gesellen sich hier eine selbstgemachte Chutney, Olivenöl-Gewürz-Dip und gewürzten Kaffee zum sagenhaften Buffet. Die Familie hat uns am Vorabend von Halfati vorgeschwärmt. Halfati? Nie gehört. Eine kurze konsultation des Internets überzeugt uns von einem Schwenker. Wir ändern spontan unsere Pläne und anstatt auf direktem Weg nach Urfa weiterzuradeln, zweigen wir am nächsten Morgen gleich auf der anderen Seite des Euphrats von der Hauptstrasse ab und folgen dem Fluss nach Süden durch die unendlichen Pistazienpflanzungen.
Bei Halfeti hat sich der Euphrat ein tiefes Tal gegraben und die steil abfallenden Klippen bilden eine imposante Kulisse. Für das riesige Südostanatolien-Projekt (GAP) wurden der Euphrat und der Tigris ab 1999 an unzähligen Staudämmen aufgestaut. Viele Täler und Dörfer wurden dabei überflutet und in einiger Kilometer Entfernung zum alten Standort neu aufgebaut. So gibt es jetzt ein Neu-Halfeti inmitten von Pistazienbäumen oben auf der Ebene und ein ursprüngliches Halfeti direkt am Wasser, welches als Touristenmagnet vor allem inländische Touristen anzieht. Uns gefällt es so gut, dass wir gleich einen ganzen Tag und eine weitere Nacht an diesem besonderen Ort verbringen.
Nach einer weiteren Tagesfahrt durch die Pistachienbäume und einer weiteren Nacht am Euphrat erreichen wir schliesslich das sagenumwobene Sanliurfa. Die uralte Stadt wird schon im alten Testament als «Ur» erwähnt, ist Geburtsort von Abraham und wichtiger Knotenpunkt auf der Seidenstrasse. Wir finden in der verwinkelten Altstadt eine hübsche Unterkunft mit Innenhof und Karawanserei Charakter. Wie immer lassen wir uns einfach mal durch die Gassen treiben und schauen, was uns da so begegnet. Als wir in eine belebte Markstrasse abzweigen, können wir uns kaum sattsehen an all den neuen Eindrücken. Die Händler bieten leuchtende, glitzernde Stoff an, weissbärtige Männer sitzen vor Tabakhaufen, kleine, kräftige Pferde ziehen Wagen mit Gemüseberge durch die Gassen. Wir stehen und staunen über die karierten Kopftücher und übergrossen Hirtenmäntel der Männer, die selbstbewussten Frauen mit den feurigen Augen und samtenen Umhängen. Brass besetzte Stoffe und glänzende Gürtel blitzen unter weiten Kleidern hervor, die kehligen Laute von Arabisch füllen die Luft, Taubenschwärme kreisen über den Häusern, es riecht nach Essen und tönt nach Markt und wir sind bald im Gespräch mit einem jungen Schuhverkäufer, der uns erklärt, dass die Menschen hier zwar alles Türken sind, aber arabische Türken. Diese haben ihre ursprüngliche Kultur und Sprache beibehalten und prägen das Stadtbild in Urfa.
Wir lassen uns durch die geschäftigen Gassen spülen und stehen irgendwann vor dem Balikligöl. Hier soll Abraham laut islamischer Erzählung einst in ein Feuer geworfen aber von Gott gerettet worden sein. Die Kohle des Feuers verwandelte sich dabei in die zahlreichen schwarzen Karpfen, die von den Besuchern gerne gefüttert werden.
Abrahams Geburtshöhle liegt gleich nebenan und ist ebenfalls ein wichtiger Pilgerort für die Muslime, die Abraham als einen von vielen Propheten und Urvater verehren.
Urfa ist eine eindrückliche Stadt. Die vielen Pferdefuhrwerke, der orientalischen Kleidungsstil, die Warenauslagen in den Geschäften und die alte Architektur der Innenstadt lassen uns eintauchen in eine uralte Menschenwelt. Einige Kilometer neben der Stadt wird seit den 90er Jahren der prähistorische Fundort von Göbekli Tepe freigelegt. Wir haben vor einiger Zeit in Yuval Noah Harari`s Buch «Eine kurze Geschichte der Menschheit» von diesem Ort gelesen, aber erst jetzt bemerken wir, dass dieser besondere Fundort nur einen Steinwurf von uns entfernt ist. Gegen Abend trampeln wir also aus der Stadt hinaus auf den Hügel von Göbekli Tepe und zelten neben zwischen einer Hochspannungsleitung und einer Funkantenne um uns dieses steinzeitliche Bergheiligtum am nächsten Tag anzuschauen. Im pompösen Besucherzentrum wird der Ort unbescheiden als «Point zero in human history» präsentiert und es werden verschiedene Vermutungen über die ursprüngliche Bedeutung des Fundortes aufgezeigt. Die Grösse und Art der Strukturen lassen auf eine komplexe Gruppenorganisation schliessen und die Bildsprache auf den kreisförmig angeordneten Steinpfeilern deuten auf einen spirituellen Hintergrund hin. Harari äussert in seinem Buch die Vermutung, dass «die Anlage auf dem Göbekli Tepe irgendetwas mit der Domestizierung des Weizens und des Menschen zu tun haben muss. Um die Menschen zu ernähren, die derart monumentale Bauwerke errichteten, waren gewaltige Mengen an Lebensmitteln nötig. Es ist durchaus denkbar, dass die Jäger und Sammler nicht vom Weizensammeln zum Weizenanbau übergingen, um ihren üblichen Kalorienbedarf zu decken, sondern um einen Tempel zu bauen. Sollte das stimmen, dann könnten religiöse Überzeugungen die Menschen veranlasst haben, den hohen Preis zu zahlen, den der Weizen verlangte.»
Uns veranlasst der Besuch zu einer langen Argumentation über Schicksal oder Fügung, der Bedeutung und Wirkung von Religion und der scheinbaren Unausweichlichkeit von Geschehnissen auf globaler und unmittelbarer Ebene.
Weiter geht unsere Fahrt durch diese bedeutungsvolle Weltengegend, wo die Sesshaftigkeit der Menschen und der Ackerbau vor 12`000 Jahren ihre Anfänge genommen haben. Der Weizen habe den Menschen domestiziert und zur Häuslichkeit gezwungen und nicht umgekehrt, meint Harari. Stundenlang fahren wir zwischen steinübersähten Feldern vorbei, beobachten die Bauern, die seit Generationen die Steine aus den Feldern räumen, Bewässerungsrohre auslegen und einsammeln, Traktoren fahren, Dünger verteilen, Gift spritzen, sähen, pflegen, ernten und dabei grosse Familien gründen, die kaum satt zu bringen sind- da ist was dran an dieser These. Unsere eigene Ernährung ist zeittypisch ebenfalls sehr weizenlastig. Pasta, Bulgur, Brot und Haferflocken sind tägliche Grundzutaten. Es ist erstaunlich, dass sich die Menschheit all diese Nahrungsmittel erst vor 10`000 Jahren angewöhnt hat!
Dass ist ja unglaublich, was ihr alles erlebt! Ich konnte eure letzen Berichte erst heute lesen. Es war nämlich Guetzle angesagt. Mit grossem Imteresse verfolge ich eure spannenden Berichte und bin fast ein wenig mit euch unterwegs. Macht weiter so!