Nach der unruhigen Nacht am Fischer-Partystrand brechen wir früh auf, um eine längere Inlandstrecke hinter uns zu bringen. Nur wenige Kilometer von der Küste entfernt, beginnen die endlosen Palmölplantagen. Die Monokultur bedeckt die Hügel bis zum Horizont. Es ist unbarmherzig heiss und feucht und wir sind froh über die kurzen, heftigen Regenschauer, die uns wenigstens kurzzeitig etwas herunterkühlen. Nach 72 unspektakulären Kilometern gelangen wir in das Dorf Mawai inmitten der Plantagen und dürfen glücklicherweise bei der kleinen Moschee übernachten. Wir können kalt duschen, Louie holt treibt uns einmal mehr in einem nahen Restaurant ein Take-away Abendessen auf und unter den Deckenventilatoren lässt sich der feucht-heisse Abend ganz gut ertragen.
Ein letzter, mühsamer Fahrtag bringt uns in die Grenzgrossstadt Johor Bahru (JB). Hier kommen wir in einer günstigen Unterkunft unter- nachdem wir uns erfolgreich durch den teilweise kriminellen Stadtverkehr gequält haben. Wir bleiben für zwei Nächte im Memory Guesthouse, welches vom jungen Chinesen Gan geführt wird. Dem kleinen Wohnhaus hat Gan auf abenteuerliche Art und Weise einige Räume abgerungen und beigefügt. Der breite Gang beherbergt rechts und links kleine Separees, in denen einige Schichtarbeiter längerfristig unterkommen. Deren ganze Privatsphäre besteht aus einem einfachen Bett im zwei bis drei Quadratmeter grossen Raumabschnitt, welcher lediglich von nicht ganz bodenlangen Vorhängen zum Gang hin abgegrenzt wird. Ein Schliessfach in einem anderen Teil des Raumes vervollständigt das «Zuhause». Wir erhaschen hier einen Einblick in die Lebensrealität von Gastarbeitern in Singapur. Wohnraum in Singapur ist viel zu teuer und das malaysische Johor Bahru ist die gangbare Alternative. Die Männer hier sind jung, stammen aus China, aus Singapur, Malaysia und Indonesien und alle arbeitet sie in Singapur. Manche haben Jobs in Büros und leisten sich bei Gan ein richtiges Zimmer, andere arbeiten temporär und wieder andere verdienen ihr Geld mit Essensauslieferungen mit dem eigenen Motorrad. Manche wohnen schon seit mehreren Jahren hier im Memory Guesthouse. Der junge Gastarbeiter 2022 ist äusserlich nicht vom hippen Stadtasiaten zu unterscheiden: Modische Kleidung, kecker Haarschnitt, grosses Smartphone und stylische Kopfhörer. Zum Abendessen gibt es KFC oder Fertignudeln. Was für eine Lebensrealität! Den Reichtum und Prunk von Singapur gleich um die Ecke, die abhängigen Familien weit weg und dazu verdammt, als eher schlecht bezahlter Gastarbeiter jeden Tag auf die Insel zu pendeln. Oder auch: Was für eine Lebenswahl! Um möglichst viel Geld zu verdienen, um sich die eigenen materialistischen Träum zu verwirklichen, auf die eigene Familie und Freunde verzichten, die Freizeit alleine auf einer Pritsche verbringen und die Lebenszeit mit Youtube und Netflix vernichten… Beide Versionen haben hier ihren Platz.
Louie investiert den Nachmittag in JB, um unseren Velos eine Tiefenreinigung zu verpassen. Neuseeland hat überaus strenge Regeln, was die Einfuhr von Ausrüstungsgegenständen betrifft. Sämtliche Campinggegenstände sollen sorgfältig gewaschen und von Schmutz befreit sein, denn Neuseeland will keine fremde Erde auf seinem Boden. Diese könnte möglicherweise Bakterien oder Kleinstlebewesen einschleppen, die der einmaligen Flora und Fauna Schaden zufügt. So schrubbt Louie bei mörderischer Hitze und Sonne die Räder, während ich einmal mehr zu einem Ultraschalltermin eile. Für den bevorstehenden Flug benötige ich ein «Fit to Fly» Schreiben, da sich mein wachsender Bauch nur noch schlecht verstecken lässt.
Unser erstaunlich gemütliches Zimmer ist mehr oder weniger mit Klebeband am Haupthaus befestigt und unter dem dicken Plastikdach verwandelt sich der Raum schnell in eine kleine Sauna, die sich nur mit kalten Duschen und Ventilatoren aushalten lässt. Überhaupt hat Gen nicht mit Klebeband gespart. Das gesamte Guesthouse ist mit fröhlich gemusterten Plastikfolie eingeklebt. Die Nasszellen sind mit kariertem Klebeband imprägniert, die Wände mit klebender Tapete im Ziegelstein-look verziert und der Eingangsbereich, der auch als Aufenthaltsraum und Küche dient, mit schweren Plastikplanen (und Klebeband) gegen die unbarmherzigen Monsunschauer abgedichtet.
Wir fühlen uns wohl im Memory Guest House und geniessen die spannenden Gespräche mit Menschen aus den unterschiedlichsten Lebenswelten.
Schliesslich kommt der grosse Tag, an dem wir uns über die Grenze nach Singapur wagen. Nach diversen Konsultationen mit den geübten Singapur-Pendlern brechen wir um die Mittagszeit auf, in der Hoffnung, dass wir so dem übelsten Pendlerverkehr entkommen. Über breite Autostrassen fädeln wir uns in den beeindruckenden Grenzübergang ein, der jeden Tag von rund 350`000 Grenzgängern überquert wird. Die über einen Kilometer lange Brücke strotz vor Effizienz: Gleich zu Beginn werden Fahrzeuge nach Grösse aufgeteilt und die unzähligen Motorräder werden durch schmale Gasse in vollautomatisierte Passkontrollen geschleust. Wir spielen Motorrad und innert kürzester Zeit finden wir uns auf der langen Brücke auf singapurischem Grund wieder. Ab sofort fahren wir auf modernen Fahrradspuren, vorbei an kleinen Parks, Grünflächen und im Schatten der auf riesigen Säulen thronenden MRT (Mass Rapid Transit= U-Bahn). Wir fühlen uns wie in einer tropischen Version eines modernen zürcher Aussenquartiers. Alles ist unglaublich sauber und gepflegt und wirkt auf uns wie eine gigantische Hotelanlage. Gegessen wird in Singapur in sogenannten Hawker Centers. Die einst mobilen Foodstände und Garküche sind unter einem Dach vereint, überaus hygienisch und praktisch. Die Auswahl vereint die gesamten kulinarischen Highlights des asiatischen Raums und glücklicherweise sind hier die Menüs auf English beschrieben. Ein kurzer Rundgang in einem kleinen, chinesisch geführten Supermarkt lässt mich staunen: Hier ist alles erhältlich, was ich mir nur vorstellen kann! Früchte und Gemüse, verschiedenste Käse- und Milchprodukte (aus Neuseeland!), Hummus, Kelloggs, internationale Cracker Marken, eingelegte Oliven, Niveacremes, Riccola Bonbons, Olivenöl… Solch eine Auswahl an Produkten haben wir schon lange nicht mehr zu Gesicht bekommen!
Auch das Preisniveau ist mit dem Überqueren der Brücke schlagartig angestiegen. Die Strassenküchen kosten locker das Doppelte oder Dreifache von dem, was wir uns gewohnt sind. Menschen sind mit dem Fahrrad von A zu B unterwegs. Kinder werden in Kinderwägen herumgeschoben. Hündchen werden an der Leine Gassi geführt. Fussgänger sind in die Bildschirme ihrer Smartphones vertieft oder führen dank kabellosen Kopfhörern Telefongespräche. Frauen sind auch ohne Kopftuch unterwegs, Tattoos blitzen unter Ärmeln hervor, die Blicke sind etwas abwesend und eher auf der ernsten Seite. Wir sind zurück in der «westlichen» Lebenswelt und müssen den Schock erst einmal verdauen.